Im Dezember 1915 wurde in Sankt Petersburg, das damals Petrograd hieß, „Die letzte futuristische Ausstellung 0,10“ eröffnet. Erstmals konnten die Besucher eine ganze Serie von Arbeiten Kasimir Malewitschs bestaunen, die im Stile des Suprematismus gemalt worden waren. Malewitsch selbst hatte die Stilrichtung einst begründet. Die größte Begeisterung bei Malewitschs Anhängern und zugleich die größte Ablehnung in der breiten Öffentlichkeit rief das Bild „Das Schwarze Viereck“ hervor, das bewusst provokant in der sogenannten „roten“, östlichen Ecke des Ausstellungssaales aufgehängt worden war. Nach orthodoxer Tradition ist diese Ecke in jedem Haus den Ikonen vorbehalten.
In diesem Jahr wird das Bild nun hundert Jahre alt. Der Ehrentag wird jedoch nicht im Dezember gefeiert, sondern schon im Sommer. Der russische Kunstexperte und ausgewiesene Malewitsch-Kenner Aleksandr Schatski nimmt an, dass „Das Schwarze Viereck“ am 21. Juni 1915 fertiggestellt wurde.
Zu Beginn war der Kult um das später in „Das Schwarze Quadrat“ umbenannte Bild und den Suprematismus nur innerhalb eines engen Kreises von Anhängern und Schülern Malewitschs verbreitet. In Europa gab es nur vereinzelt Bewunderer. Das Interesse an gegenstandsloser Kunst entwickelte sich zwar in Russland, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland fast gleichzeitig, doch ebenso rasch verging es wieder. Dies ist wohl auch der Grund, warum Kasimir Malewitsch recht lange Zeit nur eine Randfigur der internationalen Künstlergemeinde blieb. Auch der Umstand, dass seine Werke, die in sowjetischen Museen aufbewahrt wurden, ab dem Beginn der 1930er-Jahre nicht mehr öffentlich gezeigt werden durften, stand weltweitem Ruhm im Wege. Später breitete sich die Erinnerung an die Blütezeit der Avantgarde langsam aber sicher im Inland aus und man hütete sich vor dem Export in Länder auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.
Weltweite Berühmtheit erlangte Malewitsch erst nach seinem Tod. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfuhr die abstrakte Malerei in Europa und den USA einen neuen Boom. Einige suprematistische Arbeiten Malewitschs wurden bereits vor dem Zweiten Weltkrieg im New York Museum of Modern Art aufbewahrt, einige waren auch in Privatbesitz in Europa. Großes Interesse am Erbe des Künstlers entstand, nachdem 1957 das Amsterdamer Museum Stedelijk endlich eine Sammlung Malewitschs erwerben konnte, die sich zuvor in Deutschland befand und weitgehend unbekannt war.
Diese Kollektion wurde 1927 von Malewitsch zu einer privaten Ausstellung nach Berlin gebracht. Als er aus unbekanntem Grund frühzeitig wieder in sein Heimatland zurückkehren musste, blieben die Exponate in der Obhut des Architekten Hugo Hering zurück. Der Maler konnte nie zurückkehren, um sie zu holen. Es gelang, sein Werk vor den Nazis zu schützen, es überstand den Krieg und gelangte schließlich in die Niederlande. Die groß angelegte Ausstellung der Werke im Museum Stedelijk und ihre Veröffentlichung in Bildbänden hatten einen unvorstellbaren Effekt. Und das obwohl der Löwenanteil des Erbes Malewitschs bis in die späten 1980er-Jahre für das westliche Publikum unzugänglich blieb.
Irina Karasik, eine Sankt Petersburger Kunstexpertin und Fachfrau für die russische Avantgarde, nimmt an: „In der Weltgeschichte der Kunst gibt es vermutlich kein Gemälde mit größerer Berühmtheit als „Das Schwarze Quadrat“ von Malewitsch. Es gibt kein Werk, das so viele andere Kunstwerke inspiriert hat.“ Sein Einfluss sei dabei von Land zu Land unterschiedlich. So paradox es auch klingen mag: In Russland sei er deutlich weniger spürbar als im Westen.
„Das Schwarze Quadrat“, das vom Künstler als ein „lebendiges Zarenbaby“ charakterisiert wurde, musste Einfluss haben, und zwar weniger wegen seines Aussehens als vielmehr wegen eines tieferen Sinns. Einer der wichtigsten Grundgedanken war: „Ich bin zum Nullpunkt der Form gelangt und bin hinter diesen Nullpunkt getreten, um zu gestalten.“ Anders gesagt: „Das Schwarze Quadrat“ ist ein magisches Mittel, um dem zu entkommen, woran die alte Kunst „krankte“. Und genau so wurde das Werk von vielen Künstlern aufgenommen, die der Ästhetik Malewitschs nicht direkt folgen wollten. Während man von amerikanischen Minimalisten der 1950er- und 1960er-Jahre wie Carl Andre und Donald Judd noch sagen konnte, dass sie viel vom Stil des Suprematismus übernommen hatten, so kann man in den Arbeiten des Franzosen Yves Klein oder des Amerikaners Mark Rotko fast nichts entdecken, was an die kompakte Geometrie Malewitschs erinnert. Dennoch sprechen beide von Malewitsch als wichtiger Inspiration.
Der revolutionäre deutsche Künstler Josef Beuys versicherte in einem seiner Manifeste: „Alles ist Kunst“. Und damit wiederholte er zweifelsohne Malewitsch selbst. Den deklarativen Verzicht der Suprematisten auf „künstlerische Ausschweifung“ kann man als Vorzeichen für die Entstehung des Konzeptualismus betrachten. Wenn auch weit entfernt, so sind „Das Schwarze Quadrat“ und die Werke der amerikanischen Künstlerbewegung namens „Neo-Geo“ am Ende des 20. Jahrhunderts deutlich miteinander verwandt. Auch in den Bereichen Design und Architektur ist der Einfluss der „Ikone der Avantgarde“ seit Jahrzehnten zu spüren. Er hat sich hier fast absolut durchgesetzt, etwa bei der bekannten Architektin Zaha Hadid, die nicht nur einmal ihre Leidenschaft für Kunst betont hat. Nicht ohne Grund ist bei ihrer Retroperspektive, die derzeit in der Eremitage präsentiert wird, eine der Versionen des „Schwarzen Quadrats“ als Epigraph zu sehen.
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