Selbstverständlich werden ihre Rechtsanwälte Einspruch einlegen. Es gibt auch die Möglichkeit eines Gnadespruchs durch den Präsidenten. Der Prozess hat aber eines der größten Probleme im heutigen Russland aufgezeigt – nämlich die begrenzte Legitimität der Großvermögen, die in den 1990ern erwirtschaftet wurden. Diese Vermögen bilden nach wie vor das Fundament der russischen Wirtschaft, und dadurch wird das Problem noch schärfer.
So entsteht ein Dilemma: Zeitlich gesehen kann die Rechtsprechung nicht an den Ausgangspunkt zurück, als gegen das Gesetz verstoßen wurde. Man kann nicht alles neu aufrollen lassen, wie es im europäischen Recht üblich ist, denn das würde das Grundgerüst der russischen Wirtschaft ins Wanken bringen. Es ist allerdings auch bedrohlich, mit dieser gesetzesbrecherischen Last weiterzuleben – primär für die “Nutznießer” der 90er selbst.
Oligarchen in der Zivilgesellschaft
Auf diesen Fakt weisen die Urteilsgegner hin, eine in sich geschlossene Gruppe besagter „Nutznießer“. Zu Recht betonen Sie, dass der Chodorkowski-Prozess einen gefährlichen Präzedenzfall schaffe und die Legalität der landesgrößten Unternehmen in Frage stelle. Westliche Politiker stimmen ein, darunter US-Außenministerin Hillary Clinton und Bundesaußenminister Guido Westerwelle: sie fordern Russland auf, seine eigenen Gesetze einzuhalten. Das Bemerkenswerte: Vor Chodorkowskis Inhaftierung 2003 verlangten westliche Politiker wie Medien ebenfalls die Einhaltung der Gesetze, allerdings in umgekehrter Richtung. Damals legten sie der russischen Führung ausdrücklich nahe, die russischen Oligarchen zu zügeln, die sie als "Räuberbarone" bezeichneten (so nannte die New York Times am 29. Dezember den Chodorkowski der 90er Jahre).
Der Spiegel Nr. 28 vom 8. Juli 2002 schrieb: “Politik interessiert den neuen Zaren des schwarzen Goldes nur in dem Maß, wie sie seine Geschäfte fördert oder behindert”. Es war auch wohl nicht die Demokratie, die Chodorkowski 1996 im Sinn hatte, als er mit anderen Oligarchen Jelzins Wahlkampf mitorganisierte und -finanzierte. Es folgt ein interessantes Zitat Chodorkowskis: “Man kann uns vorwerfen, dass wir Standards der Fairness verletzt haben, aber angesichts der Alternative haben wir das Beste für unser Land getan”. “Sicher auch das Beste für sich selbst”, heisst es vom Autor des Artikels weiter.
Nach dem offenen Streit mit Putin und der Verhaftung im Sommer 2003 schlug die westliche Presse plötzlich andere Töne an. Von da an war Chodorkowski ein Symbol für Zivilgesellschaft und Demokratie. Wie immer liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Wurde das Gesetz bei Konzerngründungen der Oligarchen – darunter auch Yukos – verletzt? Ja, diesem hat das Gericht zugestimmt. Waren Chodorkowski und Lebedew etwa die einzigen, die die Situation damals voll ausnutzten? Selbstverständlich nicht. Die Zeitbombe ist explodiert. Ihr Zünder wurde aber noch damals eingestellt.
Kapitalismus nach russischer Art
Das System der Großkapitalschöpfung wurde Ende der 80er gezündet und kam während der zweiten Privatisierungswelle ab 1994 auf Hochtouren. Gleichzeitig zog jene selektive Rechtssprechung ein, die die Chodorkowski-Anhänger heute dem Gericht vorwerfen: Chefs von Ölkonzernen, gewinnbringenden Gesellschaften und gigantischen Metallurgiebetrieben. Eigentlich wurde ihnen so - unter vorgehaltener Hand – die Immunität gegen rechtliche Verfolgung zugesichert.
Parallel wurde gewollt verworrenes, intransparentes System des Eigentums und seiner Verwaltung geschaffen, das die wahren Reichen und Schönen unantastbar machte. Eintagsfirmen, Briefkasten-Töchter und Schein-Geschäftsführer - diese Mechanismen sind beim Chodorkowski-Prozess zum Vorschein gekommen. "Die eigentlichen Entscheidungen traf Chodorkowski, dafür mussten aber jene Personen haften, die die Dokumente unterschrieben hatten", verdeutlichte der Richter.
Hat es all das tatsächlich gegeben, oder sind das etwa Erfindungen der Chodorkowski-Kritiker? Doch, das gab es, aber nicht nur bei Yukos. Fast alle russischen Bürger waren direkt oder indirekt in diesem System verstrickt. Man nehme etwa den Finanzcrash 1998, als die Banken die Spareinlagen ihrer Kunden plötzlich nicht mehr auszahlen konnten, oder die feindlichen Übernahmen von Aluminiumfabriken, Ölvorkommen und gar Forschungsinstituten, oder die reihenweise nicht ausbezahlten Löhne und Gehälter. Ständig wurde immer wieder deutlich: Es gibt gewisse “Auserwählte”, die all das dürfen, was der Normalbürger nicht darf. Eine Gerechtigkeit war gerade wegen der Gesetze unmöglich, weil diese immer zugunsten der “Auserwählten” gedeutet wurden.
Selektive Rechtssprechung
Diese selektive Justiz gab es also schon früher. Deshalb begreift der heutige russische Durchschnittsbürger auch die Argumentation der Chodorkowski-Anhänger nicht. Schließlich war die Rechtssprechung der 90er durchweg selektiv, warum sollte er also jetzt dagegen protestieren? Dadurch lässt sich auch das geringe Interesse der Russen für den Chodorkowski-Fall erklären: Laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums hätten lediglich zwei Prozent aller Befragten den Prozess verfolgt, etwa zwölf Prozent bekundeten “sporadisches Interesse”.
Jene, die vor 20 Jahren das System der selektiven Rechtssprechung schufen, gaben vor, aus der Not heraus und auch im Interesse der Gesellschaft zu handeln. Wir brauchten schnellstmöglich Großbesitzer im Land, sagten sie. Es schien auch sehr lange, dass die damals getroffene und moralisch nicht vertretbare Wahl der Vergangenheit angehöre. Denkste: Für alles in diesem Leben muss bezahlt werden, für Großkapital eben groß – früher oder später.
Dmitrij Babitsch arbeitete als Korrespondent für die Komsomolskaja Prawda und für den Fernsehsender TV-6, bevor Ressortleiter für Internationales der englischsprachigen Wochenzeitung Moscow News wurde. Heute schreibt er für Russia Profile.org und RIA Novosti.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.
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