Kerngesund: Ein Augenzeuge erinnert sich an Tschernobyl

Kernkraftwerk Tschernobyl Foto: RIA NOVOSTI

Kernkraftwerk Tschernobyl Foto: RIA NOVOSTI

Mai 1986 ging der Autor wegen einer Reportage ins Tschernobyl-Sperrgebiet. 25 Jahre später erinnert er sich an die atomare Katastrophe – und begreift, dass damals der Anfang vom Ende eingeläutet wurde.

 Es gibt Episoden im Leben eines jeden Journalisten, die man gern schamvoll aus dem Gedächtnis streichen würde. Doch es ist beim besten Willen nicht möglich. Meine Episode wäre meine erste Reportage aus Tschernobyl 1986. Jedes Jahr im Mai werde ich mit meinem Gewissen nicht fertig, es nagt richtig an mir.

„Alexander Nikolajewitsch, was ist das Schrecklichste an Tschernobyl?“, fragte ich am 1. Mai 1986 den Sekretär der Zentralkomitees der kommunistischen Partei Alexander Jakowlew. Das Politbüro hatte sich endlich durchgerungen, das Volk aufzuklären, was in Tschernobyl eigentlich passiert war – fünf Tage nach der Katastrophe. Also ließ der Perestroika-Ideologe acht Journalisten der sowjetischen Zentralzeitungen zu sich kommen.

Alexander Jakowlew Foto:ITAR-TASS

Alexander Jakowlew. Foto:ITAR-TASS


Im Gegensatz zu uns, wusste Jakowlew bereits Einiges. Erbost zog er seine buschigen Brauen zusammen: „Natürlich diese verfluchten Plünderer! Sie rauben in der vorübergehend geräumten Stadt Pripjat: Wasserkocher, Stühle und sogar Staubsauer nehmen sie mit, diese Schufte!“

Am 2. Mai standen wir bereits an der Grenze zur Sperrzone um Tschernobyl. Es war alles so, wie es Jakowlew erzählt hatte. Außerhalb der Sperrzone ging das Leben munter weiter, als ließen sich auch die unbändigen Atome vom Schlagbaum aufhalten. Junge Soldaten spielten in ihrer Unterwäsche Fußball. Sie genossen die warme Frühlingssonne.

Einfahrt in die Sperrzone 

Einfahrt in die Sperrzone. Foto: Topfoto/Fotobank

Und so schrieb ich eine sowjetische Ode über die Willenskraft und den Mut der Räumarbeiter, und erwähnte natürlich auch die verfluchten Marodeure. Der blinde Glaube und das Unwissen führten meine Feder. Die Erleuchtung kam kurz darauf: Eine für den 9. Mai – den Tag des Sieges – geplante Reportage über das internationale Radrennen für den Frieden in Kiew ließ ich fallen.

Ich konnte einfach nicht über Sportler schreiben, die in der 100 Kilometer entfernten Stadt über heißen Asphalt radelten und dabei sivertweise Strahlung tankten.

Heldentum mit dem Leben bezahlt

 

Der Flüchtlingstrom aus der Sperrzone wollte nicht nachlassen. Weinende Frauen drückten ihre Kinder an die Brust, Männer trugen mürrisch ihr wenig Hab und Gut. Das Bild erinnerte an die Filme über den Krieg, als der Großraum Kiew kurz vor dem Eintreffen der Nazis geräumt wurde. Später erfuhr ich, dass in jenem Mai wegen Tschernobyl nicht weniger Menschen evakuiert wurden als in den Kriegsjahren.

15 Tage lang fuhren wir täglich in die Sperrzone. Als wir das Gebiet verließen, wurden wir gründlichst mit Strahlungsmessgeräten abgetastet, die Ärze schrieben etwas auf, unklar was und wofür. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn das piepende Gerät bei den Stiefeln plötzlich völlig durchdreht und der Dosimetrist vertröstet: „Macht euch keine Sorgen, das ist nur der Schlamm, in den ihr getreten seid. Wascht ihn ab und ihr seid sauber, wir kennen das”.

Maifeiertag Demonstration in Kiew, 1986

Tag der Arbeit: Mai-Demo in Kiew 1986.


Ich gedenke der Übermutigen, die in jener ausweglosen Situation übermutig sein mussten, der 250 000 Liquidatoren und jener, die vergessen und fallen gelassen wurden. Auch heute erinnere ich mich noch an eine junge Komsomolzin aus Polesje, die die todbringenden Brandherde furchtlos mit Sand und Schotter zuschaufelte. Vorgestern noch erzählte sie stolz von ihren Jungkomsomolzen. Sie schien so motiviert, so kraftvoll! Die Ärzte sagten, dies komme oft vor, wenn man verstrahlt wurde. Heute suche ich sie, ich will ihr die Zeitung mit dem Artikel geben, wo auch sie erwähnt wird. Aber ich finde sie nicht: „Sie hat sich hingelegt und ist von uns gegangen. Still und leise.“

Ich erinnere mich an einen berühmten Wissenschaftler, der einen Räumarbeiter zu seinem Dienst überreden will: „Wovor hast du Angst? Auf dem Dach von Block 3 dauert’s höchstens fünf Minuten. Wenn du willst können wir ja zusammen hochgehen. Dafür kriegst du dann Urlaub, eine Prämie und einen Orden. Also komm, dann gehen wir halt zusammen hin.“ Der Wissenschaftler war tatsächlich freiwillig nach Tschernobyl gekommen, erschreckt durch das Ausmaß der Katastrophe. Wo mag jener Arbeiter heute sein?

Liquidatoren auf dem Dach des dritten Blocks

Liquidatoren auf dem Dach von Block 3. Foto: Topfoto/Fotobank

Gefängnis statt Orden

 

Ich führte ein langes Gespräch mit dem damaligen Direktor des AKW Tschernobyl. In den langen Mainächten frage ich mich, mit welcher Auszeichnung er für seinen Einsatz wohl geehrt werden wird. Zum Held der Sowjetunion wird es wohl nicht reichen, aber vielleicht für den Leninorden? Der Direktor bekommt acht Jahre Gefängnis. Nach wenigen Jahren wird er entlassen – dank Frau Raissa Gorbatschowa und ihren Bemühungen, möge sie in Frieden ruhen. Der Direktor hatte keine Schuld: Ihm wurde ja befohlen, mit Atomen zu experimentieren.

Ich erinnere mich an eine weitere Episode: Es ist spät abends, mein Kollege und ich übernachten in einer Wachsiedlung in der Sperrzone. Dort, wo sich Arbeiter nach ihrem Dienst “im Schmutz”, sprich im radioaktiv verseuchten Gebiet, ausruhen, als plötzlich ein ein Jaulen und Lachen durch das leere, ausgestorbene Städtchen hallt: Eine Bande junger Liquidatoren jagt einem Ferkel hinterher. „Leute, ist euch eigentlich klar, dass das Schwein schmutzig ist?“ Die jungen Kerle antworten: „Wir messen das Schwein. Wenn es schmutzig ist, dann ziehen wir die Haut ab.“ Nach einer Stunde rufen sie: „Hey, ihr da, Journalisten, kommt ans Feuer. Das Schwein strahlt nur ein bißchen, den meisten Schmutz haben wir weggeschnitten.“

Ich erinnere mich an das idyllische Bild am Morgen darauf: Ein Angler im Strahlenschutzanzug zieht Karpfen aus dem künstlichen Teich. Er zieht die Fische aus dem Wasser, nimmt sie vom Haken und wirft sie mit einer kraftvollen Bewegung gleich wieder zurück. „Wozu denn das?“, frage ich. „Bei der Strahlung hier“, seufzt der Fischer, „leuchten die fetten Karpfen ja fast. Aber wenn ich angle, beruhigt das meine Nerven.“

Der verdammte rote Wald

Der Rote Wald. Foto:RIA NOVOSTI

Der Rote Wald. Foto: RIA Novosti


Das Symbol von Tschernobyl ist der havarierte Block 4 mit dem aufklaffenden Reaktorschacht und dem gitterumsäumten Schornstein. Nicht für mich, denn alles um Block 4 war viel zu klar und einfach: Block 4 hatte seine Helden, die Tag und Nacht schufteten, um die Folgen zu minimieren. Folgen, die so schlimm hätten werden können, dass verglichen damit die Folgen von Hiroshima und Nagasaki zusammengenommen wie Experimente eines Pyrotechnikers ausgesehen hätten.

Nein, mein persönliches Tschernobyl-Symbol ist der rote Wald bei der Ausfahrt aus der Sperrzone. Dieser Wald glich einem Bild von Dantes Hölle: In ihrer Nacktheit scheußliche Bäume ohne ein einziges Blättchen, keine Vögel, keine Tiere, kein Leben - alles tot, wegen der Strahlung. Der Wald, ein im Wind pfeifender Mahnmal der Tragödie von Tschernobyl, rief in mir grauenvolle Abscheu hervor.

Hier hielten wir an, nachdem wir das Sperrgebiet verlassen hatten, und tranken eine Flasche Rotwein. Ein Cabernet, den man uns aus Moskau geschickt hatte. Wir teilten mit dem armen Fahrer, den das Schicksal zusammen mit seiner Wolga-Limousine hierher verschlagen hatte. In diesem schauerlichen Wald versuchte er erfolglos die „schmutzigen“ Räder abzuwaschen. Autoreifen waren damals sehr gesucht und nur schwer zu bekommen.

Der Schmutz von Tschernobyl

Aber der Schmutz von Tschernobyl lässt sich nie mehr abwaschen. Tschernobyl verkürzte nicht nur das Leben der Katastrophenhelfer, sondern auch das des Sowjetreichs. Nicht etwa weil die Supermacht mit den wirtschaftlichen Folgen der Katastrophe nicht fertigwurde, obwohl die Liquidation dutzende Milliarden Rubel kostete, als der Rubel noch bei 2,80 DM stand; modernste Technik wurde in die Katastrophengegend geschickt, die augenblicklich zu verstrahltem Schrott, zu einem tödlich strahlenden Haufen Altmetall wurde.

Liquidatoren washen eine verseuchte "Volga". Foto: RIA NOVOSTI

Liquidatoren reinigen eine verstrahlte Wolga-Limousine. Foto: RIA NOVOSTI


Nein: Das Unglück nahm den Sowjetbürgern den letzten Glauben an ihren Staat. Der Glaube, der auch schon vorher mit einem Fuß im Grabe stand, war endgültig zerbröselt. An etwas zu glauben, was oben diktiert und unten gebetsmühlenartig wiederholt wird – das war nach Tschernobyl nicht mehr möglich. Das lange Verschweigen der Tragödie, der starrköpfige Versuch, eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf eine Episode von regionaler Bedeutung zu reduzieren, hat die Führungsspitze teuer bezahlen müssen. Der ideologische Kollaps hatte eine noch größere Zerstörungskraft als der wirtschaftliche Fall. Nach Tschernobyl war ein Leben wie vorher nicht mehr möglich. Eine Ära ging zu Ende.

Am 17. Mai 1986 wurden wir von einem anderen Schreiber-Team ersetzt. Von Kiew nach Moskau ging es  nur über Umwege: Sämtliche Fahrkarten waren ausverkauft, die Menschen hatten das Ausmaß des Unglücks begriffen, es begann eine schreckliche Massenflucht. Ich habe ein Souvenir aus Tschernobyl mitgebracht. Eine Chirurgenmütze; solche Mützen wurden ab der zweiten Woche verteilt, sie sollten die besonders "strahlungshungrigen" Haare abdecken. Zu Hause tastete ich die Mütze mit dem Geigerzähler ab. Sie strahlte immens, also habe ich sie verbrannt. Meine italienischen Schuhe, die ich in der Sperrzone trug, wollte ich aber um jeden Preis behalten: Auch sie waren damals nur schwer zu bekommen. Tagelang habe ich sie geschrubbt, geputzt und gewaschen. Es half nichts, sie strahlten. So wie das Grundstück, wo ich sie hinterher vergrub. Schlussendlich habe ich sie im Wald verbrannt. Es war mir wirklich schade um sie.

 

Nikolaj Dolgopolow war 1986 als Korrespondent der Zeitung Komsomolskaja Prawda ins Sperrgebiet um Tschernobyl gereist. Diesen Text hatte er zum 23. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe verfasst.


Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung Rossiyskaya Gazeta.

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