Grabkreuze auf einem Kirchhof in Kimzha. Foto: William Brumfield
Fotos: William Brumfield
Kimzha liegt in der Nähe des nördlichen Polarkreises, nahe der Stelle, an der das Flüsschen Kimzha in den Mesen fließt, einen der zahlreichen Wasserwege im nördlichen Russland. An der Mündung des Mesen liegen zwei Städte, Kamenka und Mesen, mit jeweils rund 5000 Einwohnern. Mesen ist das Verwaltungszentrum der Gegend, während es in Kamenka mit einem Bauholzunternehmen den größten Arbeitgeber der Region gibt. Kimzhas Einwohnerzahl ist im Winter und Sommer sehr unterschiedlich: Im Winter leben hier einige Hundert Menschen, und während einiger Zeiten im Sommer rund hundert mehr, wenn Verwandte zurückkommen, um Eltern und Großeltern zu besuchen.
Einen großen Teil des Jahres herrschen in Kimzha harte Winterbedingungen, es blasen eisige Winde, und es gibt heimtückische Schneeverwehungen. Früher gab es einmal einen öffentlichen Nahverkehr über das Wasser von und nach Archangelsk, doch das ist lange her. Heutzutage existiert das ganze Jahr über eine Verbindung mit einem kleinen Flugzeug von Archangelsks Flughafen nach Mesen und von dort aus im Auto (und Boot) nach Kimzha. Im Winter gibt es zeitweise eine Straße (zimnik), doch dabei handelt es sich um eine ermüdende, nervenaufreibende Strecke, deren Nützlichkeit in den letzten Jahren durch die frühe Schneeschmelze eingeschränkt wurde. Eine nicht asphaltierte Straße, die ganzjährig befahrbar ist, wird in naher Zukunft fertig gestellt und theoretisch den Weg nach Archangelsk öffnen.
Unterdessen hat sich Kimzha seine traditionelle Lebensweise bewahrt. Dieser Ort strahlt eine gewisse Anziehungskraft aus, die möglicherweise am besten durch den aquamarinblauen Schimmer des Nordlichts repräsentiert wird. Auch das Dorf selbst macht mit seinen massiven Blockhäusern aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen außergewöhnlichen Eindruck. Manche dieser Häuser werden im Winter zwar verlassen und verschlossen und andere sind mit Brettern verkleidet worden, aber Kimzha ist ja auch kein Freilichtmuseum mit einigen Rekonstruktionen von Blockhäusern: Dieser Ort ist ein Lebensraum.
Einige Einwohner sind bei der Dorfverwaltung angestellt, andere leben von rudimentärer Landwirtschaft, und wieder andere haben Verbindungen zum Bauholzunternehmen in Kamenka. Die frühere Milch-Kolchose, umgeben von rostenden Maschinen, ist inzwischen verkümmert, doch ein großer Teil der Herde von Milchkühen befindet sich nun in Privatbesitz. Die Dorfbewohner leben auch von den Beeren und Pilzen, die sie im Wald finden, sowie vom Wasser. Sie sind außerdem daran gewöhnt, einen großen Teil ihrer Nahrung selbst anzubauen und einzukochen.
Das moderne Leben bietet allerdings gewisse Vorzüge, die in dieser Umgebung schwer zur Verfügung zu stellen sind. Angesichts all dieser Schwierigkeiten erscheint es besonders bemerkenswert, dass die Gebäude und die Gemeinde Kimzha so gut erhalten sind. Früher haben viele Einwohner den Ort verlassen, um anderswo zu arbeiten, und diese Auswanderung hat dazu beigetragen, Kimzhas jahrhundertealten Dimensionen zu erhalten. Die mühsame Reise, die erforderlich war, um den Ort zu erreichen, hat ebenfalls die Unversehrtheit dieser Umgebung geschützt.
Doch diese Faktoren alleine können das Überleben des Dorfes nicht erklären, denn Hunderte anderer Orte im Norden sind von der Landkarte verschwunden. Es hat den Anschein, als habe die Existenz der Kirche für Kimzhas Erhalt eine bedeutende Rolle gespielt. Mit ihrer enormen Höhe von 27 Metern prägt die Hodigitria Kirche Kimzha aus jeder Perspektive. Im russischen Norden gab es früher zahlreiche Holzkirchen − wie die Verklärungskirche auf der Insel Kizhi mit ihren 22 Kuppeln −, doch die Kirche in Kimzha ist das einzige noch erhaltene Beispiel dieser Art. Sie hat einen hohen Zentralturm und eine Kuppel aufzuweisen, die von vier kleinen Kuppeln umgeben ist. Dieser Stil wurde von einer Gruppe Zimmerleute geschaffen, die ausschließlich in dieser Gegend des Nordens aktiv war.
Man begann mit dem Bau Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Kirche wurde 1763 geweiht und hat Jahrzehnte der Vernachlässigung sowie die Bedrohung durch einen Brand überstanden. In den 1870er Jahren wurden die robusten Holzblöcke mit Brettern verkleidet. In der sowjetischen Restaurierungspraxis waren solche Verschalungen aus dem 19. Jahrhundert verpönt, und so wurden in den 1980er Jahren einige der Verkleidungen wieder entfernt. Fehlende finanzielle Mittel setzten der Restaurierung ein Ende, so dass die Kirche nun zur Hälfte verkleidet ist, zur Hälfte nicht. Im Jahr 2009 wurde das Bauwerk für eine eingehende Restaurierung zerlegt, doch die Arbeiten daran sind inzwischen eingestellt worden. Wenn die aktuellen Probleme gelöst sind, wird es auch wieder Hoffnung für den Erhalt dieses Meisterwerks geben.
Trotz seiner Schwierigkeiten hat Kimzha einstweilen ein labiles Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefunden. Eine langsam wachsende Zahl von Künstlern und Experten, die auf die Geschichte des Nordens spezialisiert sind, besuchen das Dorf; Tourismusunternehmen sprechen über die Möglichkeit, ein kleines Hotel zu errichten. Die Eröffnung der neuen Straße bringt möglicherweise neue Mittel, aber auch neue Probleme mit sich. Ohne eine örtliche Quelle des Stolzes und der spirituellen Werte wird es fraglich sein, ob der Erhalt gelingen kann. Alles hängt von der Kirche ab, die im Zentrum des Dorfes stand. Russland kann es sich kaum leisten, solche bemerkenswerten Schätze zu verlieren.
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