Foto: Reuters
Als ich das erste Mal in Juschno-Sachalinsk landete, war ich über den Wetterbericht an Bord leicht geschockt: Minus 20 Grad Celsius. Doch bald merkte ich, dass man sich gegen die Kälte durch richtige Kleidung gut schützen kann. Das größte Problem sind die vereisten Gehwege: Als ich auf der Insel Sachalin meinen ersten Abendspaziergang machte, rutschte und stürzte ich in der ersten halben Stunde ganze zehn Mal. Und was sollte ich von den gastfreundlichen Russen auf dieser Insel erwarten? Mitleid? Besorgnis? Ich wurde ausgelacht. Es gibt Geschichten über Krankenhausstationen, die randvoll mit "ungeschickten" Ausländern mit Beinbrüchen sind. Ich hatte mehr Glück.
Von November bis Ende April ist Sachalin in eine weiße Decke gehüllt. Die oberen Schichten von Flüssen und Seen verwandeln sich in Eis, und schon wenige Wochen nach Winterbeginn kann man auf ihnen lange Spaziergänge unternehmen. Dank der Eisschollen, die aus dem Norden der Insel kommen, lässt es sich sogar auf dem Meer kampieren. Die Tichaja-Bucht war mein Lieblingsort für Spaziergänge und zum Zelten auf dem Ochotskischen Meer - und das bei Temperaturen, die sich wegen des scharfen Windes noch kälter anfühlten, als sie ohnehin waren.
Der Winter auf der Insel ist auch eine wunderbare Zeit zum Eisfischen. Zeitungen titeln häufig "Fischer auf Eisscholle gestrandet", denn es gibt immer Leute, die die Warnungen des Ministeriums für Katastrophenschutz vor dem Angeln in bestimmten Gebieten ignorieren. Jedes Jahr müssen Teams des Ministeriums Fischer von driftenden Eisschollen retten.
Und wie gehen die Städte mit dem Winter um? Auf Sachalin gab es im Winter 2006‒2007 ganze 42 Zyklone, aber wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, gab es in jenem Winter keinen einzigen Stromausfall. Keine Ausfälle im Fernheizungssystem, keine Probleme irgendwelcher Art mit der Warmwasserversorgung. Schulen, Universitäten, Büros und das Alltagsleben ‒ alles schien trotz der Witterungsbedingungen ganz normal zu funktionieren. Wie gewöhnlich ließen die meisten Leute ihren Wagen in der Garage stehen, weil sie nicht riskieren wollten, auf vereisten Straßen zu fahren, doch bei den Taxis lief alles wie gewohnt. Lediglich bei einem größeren Schneesturm wurde der Flughafen geschlossen und der Fährdienst vom russischen Festland eingestellt. Im Fernen Osten Russlands lacht man über Fernsehberichte vom Flughafen Heathrow, der bei einem leisen Hauch von Schnee geschlossen wird...
Russen trotzen Schnee und Eis nicht nur - sie haben auch ihren Spaß daran
Die Moskauer und andere Bewohner Zentralrusslands halten die Winter in Sachalin für extrem, doch in anderen Gegenden des russischen Fernen Ostens sehen die Menschen das anders. So gibt es in der Hafenstadt Wladiwostok zwar nicht so viel Schnee, doch die eisigen Winde vom Nordpazifik können Menschen einfach wegpusten. Sogar Autos sind schon hinweggefegt worden. In Chabarowsk empfingen mich minus 36 Grad, und die tiefste Temperatur, die ich in der Region je erlebt habe, betrug minus 43 Grad an einem Dezembertag in Komsomolsk am Amur.
Überall in der Region ist der Gang in die „Banja“, die russische Sauna, ein heiß geliebtes Ritual – man wärmt sich auf, läuft draußen in "des Kaisers neuen Kleidern" herum und hüpft in den frischen Schnee. In vier Wintern bin ich nicht ein einziges Mal krank geworden, obwohl ich mich um größtmögliche Verwegenheit bemüht habe. Es gibt auch Leute, die gern ein Loch in einen See oder ins Meer hacken und dann baden gehen. Da die Wassertemperatur höher ist als die der Luft, geht es dem Körper gut, solange er im Wasser ist. Das Adrenalin reicht aus, um den Körper warm zu halten, während man sich wieder anzieht.
Foto: AFP/ East News
Auch wegen der Feste lohnen sich die russischen Winter. Das Neujahrsfest ist großartig - wenn auch stark kommerzialisiert. Alle Städte sind geschmückt und haben eine riesige "Neujahrstanne". Städte wie Chabarowsk und Juschno-Sachalinsk sind berühmt für ihre Eisskulpturen. So mancher Russe, dem ich im Fernen Osten begegnet bin, konnte sich das Neujahrsfest ohne Schnee absolut nicht vorstellen! Im Winter gibt es auch noch ein anderes Fest, den Internationalen Frauentag. Vor dem Feiertag zur Ehren "der schönsten Frauen der Welt" schießen im kapitalistischen Russland die Preise für Rosen in die Höhe. In der ersten Märzwoche ist der Anblick von Rosenblättern im frisch gefallenen Schnee keine Seltenheit. Im Februar gibt es auch einen "Männertag" und im März findet die die "Masleniza" statt, ein Fest zur Begrüßung des Frühlings.
Im russischen Fernen Osten sind die Winter gewöhnlich lang, und an einem kalten Februarnachmittag kann man die Menschen schon murmeln hören "skoro budet leto" ‒ der Sommer wird bald kommen. Doch trotz seiner Länge ist der Winter im russischen Fernen Osten ein einzigartiges und wunderschönes Phänomen.
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