Thema der Sendung: Wenn nicht Putin, dann wer? Foto: NTW
Am 29. Januar strahlten die landesweiten russischen Fernsehsender Erster Kanal und NTW Aufzeichnungen einer Talkshow aus, an der neben Vertretern der Duma-Parteien auch die Oppositionellen Boris Nemzow, Wladimir Ryshkow und der aus seinem Londoner Exil zugeschaltete Jewgeni Tschitschwarkin teilnahmen. Darüber hinaus waren in anderen Sendungen sowie in den Nachrichten auch oppositionelle Politiker Garri Kasparow und Michail Kasjanow präsent. Nachdem die gegen die Manipulationen bei den Parlamentswahlen gerichtete Protestaktion im Moskauer Stadtteil Tschistyje Prudy zunächst mit keinem Wort erwähnt wurde, berichtete das offizielle Fernsehen im Dezember 2011 über die Kundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz und dem Sacharow-Prospekt in Moskau.
Am Samstag fand in Moskau die größte Protestaktion seit Jahrzehnten statt. Ich war dabei.
Das ist ein ernst zu nehmender Wandel, hatte Wladimir Putin doch bereits unmittelbar nach seinem Machtantritt im Jahre 2000 klargestellt, dass er das Fernsehen als Schlüsselressource zur Lenkung und Manipulation der Gesellschaft betrachtet. In den Jahren 2005 und 2006, als im Zuge rechtlicher Veränderungen zahlreichen Parteien die Registrierung verweigert wurde, gelangte der Begriff „außerparlamentarische Opposition“ in Umlauf. Seither galt als ungeschriebenes Gesetz, dass diese subversive Opposition keinen Zugang zu den TV-Medien bekam.
Wenn im staatlichen Fernsehen Russlands tatsächlich ein „Tauwetter“ angebrochen ist, wie lange wird dieser Wetterumschwung dann anhalten? Bis zu den Präsidentenwahlen am 4. März oder länger? Steht womöglich der Übergang zu einem stabilen „Frühling“ und danach sogar zu einem ebensolchen „Sommer“ in Aussicht?
Bis jetzt sind die Fernsehredakteure noch bemüht, Informationen für die breite Masse zu filtern. Boris Nemzow und weitere Teilnehmer der Talkshow bemerkten nach der Ausstrahlung, dass einiges von dem, was sie geäußert hatten, herausgeschnitten worden war. Fernsehkritiker konstatieren, dass die Art und Weise der medientechnischen Aufbereitung dieser Sendungen und Interviews eher darauf hinarbeitete, einen negativen Eindruck von den Oppositionellen entstehen zu lassen. Auf denselben offiziellen Kanälen werden nach wie vor Programme ausgestrahlt, die die außerparlamentarische Opposition Russlands mit allen Mitteln zu diskreditieren versuchen. Auch Sendungen, die Wladimir Putin in den schlimmsten Traditionen sowjetischer Agitation und Propaganda verherrlichen, gehören keineswegs der Vergangenheit an.
Gleichwohl gelang es den „außerparlamentarischen“ Politikern, dem Fernsehpublikum zumindest einen Teil ihrer Thesen nahe zu bringen, während die Vertreter der Macht in der Diskussion eher blass wirkten. Dass neuerdings die Opposition über die Bildschirme des von vielen bereits vergessenen Fernsehens flimmert, ist ein bedeutsamer Schritt in Richtung adäquater Widerspiegelung der Wirklichkeit.
Über beide Amtszeiten Wladimir Putins als Präsident der Russischen Föderation von 2000 bis 2008 hinweg diktierte seine Präsidialverwaltung dem Fernsehen strenge Spielregeln. Doch nach den Massenprotesten im Dezember 2011 und dem Ausscheiden Wladislaw Surkows, dem führenden PR-Berater Putins, begann dieses System zu bröckeln. Einige Signale von oben deuteten auf einen Wandel hin. Und es gab Druck von Seiten der Journalisten, denen ihre für freiere Massenmedien arbeitenden Kollegen immer wieder blinde Loyalität vorgeworfen hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Führung dabei über eine fertig ausgearbeitete neue PR-Strategie verfügte, ist gering.
„Solange die Bewertung der Führungsspitze positiv ist, akzeptiert die Gesellschaft ein Fernsehen ohne Opposition“, meint der Politologe Alexej Makarkin. „Wenn jedoch die traditionelle Wählerschaft aufzuweichen beginnt, lässt sich die Existenz der Opposition schwerlich ignorieren.“ Eine Rolle hat sicher auch gespielt, dass es die Direktoren der Fernsehkanäle mit der „Bearbeitung der Wirklichkeit“ übertrieben und die Sender in einem Maße intellektuell wie ästhetisch degradierten, bis sie nur noch eine Parodie ihrer selbst waren.
Bis vor kurzem wusste die Mehrheit der Bevölkerung nicht, welche Ansprüche die in den großen Städten lebende aktive, gut informierte Minderheit gegenüber der Landesführung erhob. Der Fernseher fungierte als Stütze des Systems, schützte er doch die „Putin-Mehrheit“ vor dem zersetzenden Einfluss der Straße. Jetzt, wo die von der früheren Administration errichtete Mauer zwischen der manipulierten Wirklichkeit des Fernsehens und der progressiven Welt des Internets zu bröckeln beginnt, erlangt die Mehrheit Wissen über die Anliegen der Minderheit. Natürlich geht die Gesellschaft nun nicht in einer Gemeinschaftsdynamik auf. Doch die Kommunikation, der Austausch zwischen den beiden Gruppen wird aktiver.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung „Wedomosti“.
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