„Wir haben uns an den Anblick von Toten gewöhnt“

Jewgenija Alexandrowna Bakasowa hat die Leningrader Blockade überlebt. Foto: Pauline Tillmann

Jewgenija Alexandrowna Bakasowa hat die Leningrader Blockade überlebt. Foto: Pauline Tillmann

Während des Zweiten Weltkriegs wurde das heutige St. Petersburg 871 Tage lang belagert. Der Winter 1941 / 42 während dieser „Leningrader Blockade“ gilt als der härteste von allen. Zig Tausende Menschen sind erfroren oder verhungert. Insgesamt schätzt man die Zahl der getöteten Zivilisten auf mehr als eine Million. Eine der wenigen Überlebenden ist Jewgenija Bakasowa.

Jewgenija Alexandrowna Bakasowa ist 89 Jahre alt. Heute lebt sie in einem 14-stöckigen Plattenbau am Rand von St. Petersburg. Doch genau vor 70 Jahren war sie mitten im Geschehen. Denn direkt nach der Schule fing sie als Telegrafistin an. Eine Freundin hat sie dazu überredet. Dadurch lernte sie bald den obersten Kommunisten der Stadt kennen, den „Gebiets- und Stadtsekretär“ von St. Petersburg, Andrej Schdanow. Heute würde man Oberbürgermeister zu ihm sagen. Jewgenija Bakasowa spricht mit großem Respekt über ihn. Er habe viel Wert auf Ordnung gelegt und sei nie ausfallend geworden. Fast bekommt man den Eindruck als ob es sich bei ihm um einen Gentleman gehandelt haben muss. In Wirklichkeit war er aber als enger Vertrauter von Stalin ein erbarmungsloser Säuberer. Das heißt, er hat dafür gesorgt zahlreiche Oppositionelle und Andersdenkende spurlos verschwinden zu lassen – wenn sie zuvor als „unzuverlässig“ eingestuft worden sind.

Davon wusste Jewgenija Bakasowa damals nichts. Andrej Schdanow hatte offenbar zwei Seiten und sie hat nur eine davon kennen gelernt. Weil die damals 19-jährige Telegrafistin tüchtig war und als zuverlässig galt, durfte sie bald auch besonders heikle Gespräche übertragen – nämlich die zwischen Schdanow und Stalin. In einem Gesprächsprotokoll erzählt sie wie sie die „Leningrader Blockade“ vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 empfunden hat. Jene Zeit also, in der das damalige Leningrad von der Wehrmacht eingekesselt und von jeglicher Versorgung abgeschnitten worden ist. Hitler begründete seine Taktik damals mit den Worten: „Wir müssen Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichmachen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssen.“  

Gerne schaut sich die 89-Jährige Bilder von früher an, Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit. Foto: Pauline Tillmann

Jewgenija Alexandrowna Bakasowa sagt:

Ich war als Telegrafistin im Führungsstab eingesetzt. Wir waren insgesamt 100 Telegrafistinnen und haben in zwei Schichten gearbeitet. Eine Schicht begann um neun Uhr morgens und dauerte bis 15 Uhr, dann hatten wir eine Pause und dann ging es weiter bis 23 Uhr. Am Anfang hatten wir unser Gebäude auf dem Schlossplatz, aber das wurde im Laufe der Zeit zu unsicher und dann sind wir ins Smolny-Institut umgezogen. Es war damals der Sitz der Kommunistischen Partei in St. Petersburg und lag etwas hinter Bäumen versteckt. Deshalb fühlte sich die Parteispitze hier besonders sicher. Nachts zwischen 23 und zwei Uhr haben wir die Gespräche zwischen Stalin und Schdanow übertragen. Am Anfang haben uns Mädchen – wir waren ja alle erst 18, 19 Jahre alt – die Hände gezittert. Aber dann hat man sich daran gewöhnt. Nachts war die Verbindung besonders stabil. Außerdem konnten die Gespräche mit Hilfe eines Telegrafen nicht abgehört werden. Das war wichtig. Aus diesem Grund benutzte Stalin auch grundsätzlich kein Telefon. Er stellte Schdanow über den Telegrafen immer die gleichen Fragen: Wie viele Luftangriffe hat es gegeben? Wie viele Soldaten wurden getötet? Wie viel Brot ist übrig geblieben? Stalin wollte natürlich wissen was in Leningrad passiert. Und dadurch dass wir immer Kontakt zur Front hatten, waren wir auf dem aktuellsten Stand. Wir haben wirklich sehr viel gearbeitet und ich fand das gut, weil ich so kaum zum Nachdenken gekommen bin.

 

Zig tausende Menschen sind erfroren oder verhungert

 

Denn wenn man nachgedacht hätte, wäre man wohl wahnsinnig geworden. Wenn man schlafen gegangen ist, konnte es passieren, dass man morgens aufwacht und derjenige neben dir über Nacht erfroren ist. Oder verhungert. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Smolny-Institut, haben wir auf der Straße immer wieder tote Menschen gesehen. Und wissen Sie was? Wir haben uns an den Anblick von Toten gewöhnt. Denn oft hat man es einfach nicht geschafft sie wegzuräumen. Deshalb lagen sie Tage lang dort, auf dem blanken Eis. Und auch in meiner Familie sind viele gestorben. Wir haben uns mit der ganzen Familie in eine 26-Quadratmeter-Wohnung gezwängt. Und es ist leider so, dass die meisten meiner Verwandten die Blockade nicht überlebt haben. Wenn es darum geht den Hunger zu stillen, so haben wir alles gegessen was wir gefunden haben. Kohlblätter, Rote Beete, Kartoffeln, nur selten gab es Fleisch. Die Brotration für einen Arbeiter betrug 250 Gramm, für ein Kind 150 Gramm und für einen Rentner nur 125 Gramm. Ich hatte eine wichtige Position inne, deshalb habe ich 600 Gramm Brot am Tag bekommen – und es mit den anderen geteilt. Aber für einige hat es trotzdem nicht zum Leben gereicht. Auf der Straße sind viele einfach umgefallen, weil sie keine Kraft mehr hatten.

 


Und die Angst davor schwindet im Laufe der Zeit. Denn wir waren uns absolut sicher: Das ist unser Schicksal. Wir werden früher oder später sterben. Deshalb gehen einem irgendwann die Tränen aus. Wenn wir aus der Luft angegriffen worden sind haben wir uns ins Bett gelegt und die Matratze über den Kopf gezogen. Am Anfang sind wir noch in den Luftschutzbunker gerannt, aber dann kam es so oft vor, dass es schon fast Alltag wurde. Im Nebengebäude ist auch einmal eine Bombe eingeschlagen. Da wird einem wieder schlagartig bewusst, wie schnell alles vorbei sein kann. Aber man konnte ja auch nichts machen außer zu warten und zu hoffen, dass der Winter bald vorbeigeht. Denn zum Hunger kam im Winter auch noch die Kälte dazu. Teilweise hatten wir minus 30 Grad in St. Petersburg. Zweimal im Monat haben wir uns in der Banja gewaschen, weil wir zu Hause keine Dusche hatten. Gegen Ende des Krieges wurde meine Mutter über den Ladoga-See evakuiert. Sie hat den Krieg – neben mir – als Einzige aus unserer Familie überlebt. 

 

 

Die Stadt ist natürlich zerstört worden, aber nicht so stark wie befürchtet. Ich würde sagen ein Drittel ist von den Luftangriffen zerbombt worden. Ich kann mich noch genau daran erinnern als es einmal ein Krankenhaus getroffen hat. Das war ein schlimmer Anblick. Und auch sonst gab es natürlich viele schreckliche Bilder, die mir bis heute nicht aus dem Kopf gehen. Aber ich verachte die Deutschen deshalb nicht. Es war ein schwarzes Kapitel in der deutsch-sowjetischen Geschichte. Aber dafür war nicht das deutsche Volk verantwortlich sondern allein Hitler.

Reden über den Krieg war tabu

 

Auf dem Bild ist Jewgenija Bakasowa als 18-jährige Telegrafistin abgebildet. Foto: Pauline Tillmann 

Schlimm war es auch als die Männer von der Front nach Hause gekommen sind. Meine Mutter hat einen neuen Mann gefunden, den ich nicht besonders mochte. Aber ich musste damit irgendwie klar kommen. Über den Krieg haben sie nicht gesprochen, obwohl das das Einzige war worüber man hätte sprechen müssen. Denn der Krieg hat die Menschen sehr verändert. Ich selber hatte immer Pech mit Männern. Deshalb habe ich meinen Sohn Sascha allein groß gezogen. Nachts habe ich nicht mehr als drei oder vier Stunden geschlafen, damit ich uns durchbringen konnte. Als der Krieg vorbei war, kündigte ich meine Anstellung als Telegrafistin. Wenig später habe ich als Sekretärin angefangen, später habe ich noch kopieren gelernt und den Beruf 40 Jahre lang ausgeübt. Die Zeit verging wie im Fluge, aber jetzt bin ich auch froh als Rentnerin mehr Zeit für meine beiden Enkelkinder zu haben. Und natürlich für meinen Sohn Sascha.

 

Die Zeit während der Leningrader Blockade war die schlimmste Zeit meines Lebens. Aber: Es herrschte Ordnung. Andrej Schdanow sorgte mit allem Nachdruck dafür – heutzutage ist so etwas nur noch schwer zu finden. In meiner kleinen Wohnung tropft es seit 2004 von der Decke und ich habe schon unzählige Briefe an die Stadtverwaltung geschrieben. Aber glauben Sie dafür interessiert sich jemand? Keine Spur. Ich bin mir sicher unter Schdanow wäre das anders. Und wissen Sie was? Bundeskanzlerin Angela Merkel imponiert mir sehr. Ich habe das Gefühl, sie ist ein guter Mensch, weil sie sich für ihr Volk einsetzt – und ganz ehrlich, das würde ich mir auch für Russland wünschen.


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