Ihr singt ja nicht einfach Volksweisen, sondern Eure Musik ist schon etwas Spezielles. Was bringt Ihr zu Gehör?
Wir widmen uns der traditionellen Volksmusik Mittelrusslands. Die alten rituellen Lieder machen sie so interessant. Sie verfügt über viele Tonarten. Das hat sie mit der Musik der alten Griechen gemein und unterscheidet sie wiederum von der westlich-abendländischen Musik, die in der Regel auf einem einzigen, in sich geschlossenen Tonsystem aufbaut.
Wir singen alte Lieder - sowohl was den Klang als auch den Aufbau betrifft. Sie sind ungewöhnlich und für den modernen Menschen keine leichte Kost. Auch ich habe anfangs nur verblüfft zugehört und war überhaupt nicht in der Lage, sie nachzusingen. Ich konnte mir die Melodie einfach nicht merken. Diese Musik schien vollkommen ohne Logik zu sein – eine lockere Folge von Tönen und Harmonien. Heute, nach fünf, sechs Jahren Arbeit mit dieser ungewöhnlichen Musik, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie man bei solchen Klängen nicht erschaudern kann.
Weshalb ist diese Liedtradition verloren gegangen?
Ach, musiktheoretisch ist das gar nicht so kompliziert. Unsere heutige Musik wurzelt in europäischen Traditionen, allerdings in sehr alten. Die Musik, die wir heute als klassisch bezeichnen, entwickelte sich genau aus diesen rituellen Motiven. Später verloren diese Lieder ihre Verankerung im Alltag, die Brauchtumsmusik geriet in fast allen europäischen Ländern in Vergessenheit. Russland bewahrte und kultivierte dank der Trägheit seiner Entwicklung noch lange Zeit jene Lebensweise aus alten Zeiten. Vielleicht hat die altrussische Liedkultur aus diesem Grund bis heute überlebt. Man kann deren Lieder durchaus mit den Gesängen afrikanischer Stämme vergleichen. Oder mit der altindischen Musik. Diese Traditionen eint ihre lange Geschichte.
Wie kommt Ihr mit Euren Volksliedern an?
Überall, vor allem in Moskau, findet man unsere Lieder exotisch. Lange Zeit war Volkskunst oder Volksmusik nur was für Linguisten und Ethnologen. Der ganz normale Musikliebhaber kam ohne Volksmusik aus. Sie wurde ihm auch nicht angeboten.
Wenn wir heute auftreten, hören wir oft die Frage: „Was ist das dass für Musik? Kalinka-Malinka? Irgendwas von Moissejew (dem berühmten Volkstanzensemble)?“ Leider haben auch Russen von traditioneller russischer Musik oft nicht viel mehr Ahnung als Ausländer. Wir versuchen mit unseren Konzerten, dieses enorme Informationsdefizit zu füllen. Zum Glück haben wir mit jedem Konzert mehr Anhänger.
Wollt Ihr die alte Musik wieder lebendig werden lassen?
Die altrussische Liedtradition ist fast vergessen, aber noch nicht gestorben. Ihre letzten Hüter leben noch, auch wenn sie 90 Jahre alt sind. Man kann sie in ihren alten Dörfern finden, mit ihnen reden und sich ihre Lieder live anhören. So finden wir tatsächlich neue Musikstücke. Wir haben schon so manches Dorf bei Brjansk, Kaluga oder Kursk nach dieser Volksmusik durchstöbert. Hier lebt die Musiktradition noch hier und da. Während wir Städter mühsam anhand von Aufzeichnungen studieren müssen, kommt sie bei den Alten authentisch rüber. Mich überkommt immer helle Freude, wenn ich die alten Muttchen singen höre. Manchmal passiert es aber, dass man in die Heimat eines bestimmten Liedes kommt und feststellen muss: Die Liedtradition ist mit ihren letzten Sängern, die das Lied noch von Ihren Eltern und Großeltern gelernt hatten, gestorben. Es ist nichts mehr da. Da entsteht ein Schmerz über den unwiederbringlichen Verlust, eine große Leere. Die Suche nach den Wurzeln der Volksliedkultur lässt sich nicht mit archäologischen Grabungen vergleichen: Das Lied, im Gegensatz zur Scherbe, ist ein gelebtes Kulturgut. Es verschwindet mit dem Tod der Menschen, die es gesungen haben, für immer unter.
Welche Eurer Touren durch die Dörfer hat Dich am meisten beeindruckt?
Tief hat mich eine Tournee ins Dorf Ostrogljadowo im Gebiet Brjansk berührt. Wie immer traten wir mit traditionellem örtlichen Volksweisen auf. Aber auch in diesem Fall mussten wir feststellen, dass niemand mehr aus dieser Tradition am Leben war. Nur noch ein paar Töchter und Enkel, die schon lange in Rente waren. Diese baten uns, auch vor den älteren Einwohnern zu singen. Das machten wir auch gern. Anfangs wurden wir kühl empfangen, wie Fremde. Doch allmählich fassten sie Vertrauen. Und dann war es unbeschreiblich, ihre verblassten Erinnerungen wach wurden.
Sie hatten sie mit dem Tod ihrer Vorfahren schon fast beerdigt. Die Zeit, der Fernseher und die Betriebsamkeit des Alltags hatten dafür gesorgt, dass sie ihre Traditionen nahezu vergessen hatten. Als die Dorfbewohnerinnen Lieder ihrer Kindheit hörten, weinten sie. Sie begriffen, dass sie beinahe ihre Identität, ihre Kultur verloren hatten.
Wie kam es zu Entfremdung vom Volkslied?
Nach der Revolution glaubten die Bauern an die „lichte Zukunft“, die ihnen die Kommunisten versprachen. Nach ihrer Theorie musste man sich von seinem bisherigen Leben lossagen, sich von allem befreien, was einen auch nur an die Vergangenheit erinnern könnte. Mitsamt dem "alten Leben" warfen sie dann auch alle musikalischen und kulturellen Traditionen über Bord.
Hat die traditionelle Volksmusik angesichts des musikalischen Mainstreams eine Chance?
Das hängt davon ab, was man unter „Chance“ versteht. Alle Lieder zu katalogisieren, ins Internet zu stellen und sie der Allgemeinheit zugänglich zu machen, lässt sich relativ einfach bewerkstelligen. Etwas ganz anderes ist es, zu den traditionellen Wurzel zurückzukehren, die alte Liedkultur als Bestandteil des dörflichen Lebens zu erhalten. Das wird wohl kaum möglich sein. Mit dem Wandel von Lebensweise und Lifestyle brach auch die kulturelle Tradition. Wir verstehen das Volkslied als künstlerische Kategorie. Aber das ist keine Tradition im eigentlichen Sinne. Es müsste uns schon gelingen, mit unseren Auftritten in den Dörfern die Leute, die dort leben dazu zu bewegen, das alte Liedgut wieder zu erlernen und weiter zu pflegen. Das wäre ein Durchbruch; eine Renaissance des Volkslieds.
Ihr bearbeitet die alten Weisen auch im modernen Sinne. Warum?
Ich halte nichts davon, Kultur „einzubalsamieren“, also unveränderbar zu fixieren wie Lenin im Mausoleum; hinter sieben Siegeln zu verwahren. Wir müssen uns eingestehen, dass dieses Leben und diese Kultur, deren letzte Reste wir in den Dörfern finden, der Vergangenheit angehören. Wir können uns heute keine Bastschuhe mehr anziehen, den Ochsen vor den Pflug spannen und aufs Feld ziehen. Der kulturelle Wandel ist unausweichlich, und das ist auch gut so. Kultur ist nichts Totes. Unser heutiges städtisches Leben folgt neuen Rhythmen, die nicht ohne Einfluss auf das Überlieferte bleiben können. Jeder Interpret solcher traditionsreichen Lieder verleiht dieser Musik seine Interpretation. Selbst vor Hunderten von Jahren haben die Sängerinnen Text oder Melodie etwas variiert. Natürlich immer im Rahmen bestimmter kanonischer Regeln. Aber insgesamt war diese Liedkultur etwas sehr Lebendiges – und daher wandlungsfähig.
Moderne Bearbeitungen, so wie wir sie machen, erfordern ein gutes Arrangement. Man kann solche Lieder beispielsweise mit Bossa Nova kombinieren, wenn ein Musiker mit der Bossa Nova verwurzelt ist. Das wichtigste dabei ist aber, jede Form von Affektiertheit zu vermeiden.
Gukanije
Gukanije ist ein typischer Gesang für das Gebiet Brjansk. Hierbei wird in rituellen Liedern ein kräftiger Ton in gleichmäßigen Abständen wiederholt. Die Sängerin wählt in der Regel einen sehr hohen Ton. Ein solcher gleichmäßig sich wiederholter Ton wirkt unmittelbar auf Gehör und Bewusstsein. Er kann zur Trance führen.
Die Sängerinnen der alten Volkslieder beschreiben Gukanije meist als einen Weg, der von der realen Welt in die Geisterwelt führt. Die alten Slawen glaubten, dass zur Kontaktaufnahme mit den Geistern der verstorbenen Vorfahren und zur Natur eine bestimmte innere Haltung erforderlich sei. Das konnte das Singen ritueller Lieder bewerkstelligen.
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