Die russische Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa träumt von Gold in London. Foto: Corbis-Outline_FotoSA |
Doch das wird kein Zuckerschlecken. Noch zu Beginn des olympischen Jahres war die Rede von weiteren Misserfolgen, ihrem baldigen Abgang von der Bühne des Leistungssports und dem Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit. Bis vor einem Jahr überschatteten Negativschlagzeilen zunehmend ihre Karriere.
Misserfolge häufen sich
Das Leben von Sportlern währt nur kurz. Und Jelena wird am 3. Juni 2012 bereits 30 Jahre alt. Dass sich zuletzt die Misserfolge häuften, ist nur zu gut bekannt: Wir erinnern uns an die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin 2009: Jelena Issinbajewa, wie sie nach ihrem dritten Fehlversuch todunglücklich die Hände vor das Gesicht schlägt. Fassungslose Fans, Witali Petrow, ihr Trainer, der auch Sergej Bubka zum Ruhm führte, am Boden zerstört. Das Publikum verlor ein Idol. Ein weiterer Misserfolg bei den Hallenweltmeisterschaften 2010 in Doha folgte.
Sportreporter wie Sportbegeisterte fragen sich: Wie konnte es Issinbajewa, die Große, nur wagen zu verlieren? Die Sportwelt hatte sich so an ihre Höhenflüge gewöhnt, dass jeder bloße Sieg mit einem Schulterzucken quittiert wurde. Wenn es keinen neuen Rekord gab - folgten gleich Seufzer der Enttäuschung, schließlich war man gekommen, um wieder eine neue Sensation zu erleben. Dafür hatte man die sündhaft teuren Eintrittskarten erstanden. Und sie? Was macht sie? Enttäuscht mit einer mittelmäßigen Show. Zwar siegt sie, doch legt sie keine neuen Bestmarken vor. Weil Jelena Issinbajewa die Zuschauer über viele Jahre mit einer lückenlosen Erfolgsserie verwöhnt hatte, war ihr Sturz tief. In letzter Zeit blieb sie fast immer unter ihren eigenen Bestmarken, verlor.
Was war geschehen? Selbst der beste Motor braucht von Zeit zu Zeit eine Überholung. Ich als Sportjournalist glaube, dass nicht nur die Issinbajewa, sondern auch ihre Umgebung in dieser Hinsicht so einiges versäumt hat. Rekapitulieren wir die Geschichte: Nach den Olympischen Spielen 2004 in Athen gab die Sportlerin ihrem langjährigen Trainer Jewgeni Trofimow, der sie bereits als Jugendliche – seit 1997 – trainierte, den Laufpass und lies sich von Witali Petro, den Startrainer von Sergej Bubka trainieren. Das war ein Schock für die Sportwelt. Trofimow hatte Jelena sozusagen zu Olympia-Gold geführt und plötzlich wandte sie sich von ihm ab wie eine launische Tochter vom eigenen Vater. Ein König Lear, der seinen geliebten Töchtern absolut alles gegeben hat, auf einmal aber verstoßen wird und betrogen dasteht.
Drang nach Veränderungen
Der Initiative kam von Issinbajewa. Sie wollte Veränderungen und mit Witali Petrow eine neue Sprungtechnik erarbeiten. Zwei ausländische Manager wurden engagiert, um sie zu vermarkten. Das machten sie auf ihre Weise perfekt. Heute trat sie in der Öffentlichkeit auf, morgen war sie bereits unterwegs nach China, um vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und ein paar Tage später ging sie beim nächsten kommerziellen Wettkampf an den Start.
Auch die Entscheidung, das russische Wolgograd zu verlassen und ihren Wohnsitz näher hin zu den medienwirksamen und kommerziell einträglichen Turnieren zu verlegen, erschien auf den ersten Blick plausibel. Jelena Issinbajewa ließ sich im Fürstentum Monaco nieder. Eine in jeder Hinsicht reizvolle Adresse. Das Meer vor der Haustür, rund ums Jahr Training unter azurblauem Himmel, das neue Domizil nur einen Katzensprung entfernt. Ein Paradies, das Jelena anfangs in vollen Zügen genoss.
Perfektion und Einsamkeit
Ein Interview mit der Ausnahmeathletin, das ich vor zwei Jahren mit ihr in Paris führte, ließ mich jedoch aufhorchen. Ich fragte sie, wie ihr denn Monaco gefalle, der Fürstenpalast der Grimaldis hoch über der Stadt. Doch sie gestand, noch nie Zeit für eine Besichtigungstour gefunden zu haben. Auch andere kleine Details deuteten daraufhin, dass sie nichts Rechtes mit sich anzufangen wusste ohne ihre Freunde, ihre Schwestern und Eltern. Vielleicht fehlte Jelena Issinbajewa auch der Austausch mit ihren Sportkameraden, die sie über viele Jahre begleitet hatten.
Die anderen russischen Leichtathleten trainierten Tausende Kilometer von Monaco entfernt. Konnte ihr der berühmte Trainer Petrow den so unverzichtbaren Austausch mit Vertrauten und Verwandten ersetzen und für sie alles und alle zugleich sein? Ich kenne Witali Petrow noch aus der Zeit, als er den Goldjungen Sergej Bubka trainierte. Petrow ist umgänglich, gesprächig und intelligent. Im Unterschied zu vielen seiner russischen Trainerkollegen beherrscht er mehrere Fremdsprachen fließend. Mit seiner Hilfe perfektionierte sie ihre Sprungtechnik. Allerdings kann niemand mit letzter Gewissheit sagen, ob sie dadurch höher sprang und es ihr besser ging. Vielleicht…
Natürlich boten die Werbereisen in ferne Länder Ablenkung. Aber waren die exotischen Eindrücke stark genug, um das heimatliche Wolgograd aus Jelenas sensiblen Seelenleben zu verdrängen? Natürlich war sie keine Einsiedlerin. Dennoch werde ich den Eindruck nicht los, Jelena Issinbajewa könnte im unaufhaltsam rotierenden Rad der Ereignisse die stolze Einsamkeit einer König empfunden und sehr viel Zeit mit sich selbst verbracht haben. Als ich sie 2007 einmal fragte, was von den Gerüchten über ihren beabsichtigten Staatsbürgerschaftswechsel zu halten sei, habe ich sie schwer gekränkt: „Niemals, auch nicht für 100 Millionen Dollar!“ Offenbar gehört sie zu der seltenen Spezies der Patrioten, die ihrer Heimat auch im Ausland die Treue halten. Und trotzdem saß vielleicht eine junge Schöne wie hinter Schloss und Riegel im mondänen Monaco?
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Popularität wird zum Fluch
Ihre ungeheure Popularität verfolgte sie. Selbst im olympischen Dorf von Peking, wo die Besten der Besten versammelt waren, gab es für Jelena keine ruhige Minute. Andere Sportler - ebenfalls von Weltrang - standen Schlange nach einem Autogramm von ihr, denn sie war nicht einfach groß, sie war die Größte. Lena die Große. Um dieser allgegenwärtigen Öffentlichkeit zu entfliehen, zog sie die dunkle Mütze mit dem superlangen Schirm noch tiefer ins Gesicht, verdeckte die Augen mit Sonnenbrillen und versuchte zum Essen einen Einzeltisch in der Ecke zu ergattern, was ihr jedoch niemals gelang. Wie sollte einer unter diesen Umständen trainieren und den bereits 2003 aufgestellten ersten Weltrekord von 4,82 Metern überbieten können? Doch allen Unkenrufen zu Trotz: Sie siegte in Peking mit einer neuen, fulminanten Weltbestmarke von 5,05 Meter.
Darauf folgte eine lange Durststrecke. Die Sportlerin musste eine Auszeit nach der anderen nehmen. Nach den Hallenweltmeisterschaften 2010 in Doha gab sie sich niedergeschmettert: „Ich werde für unbestimmte Zeit pausieren.“ Dennoch meldete sie sich zurück, um bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2011 im koreanischen Daegu erneut zu scheitern. Mit 4,60 Meter landete sie abgeschlagen auf Platz sechs. Die Natur, das biologische Alter und die immer schneller ermüdenden Muskeln forderten ihren Tribut. Was nun folgte, waren Verletzungen, Schmerzen und öffentliche Häme. Jelena musste Turniere absagen und erneut pausieren. Aber sie ließ sich nicht unterkriegen, trat immer wieder bei Wettkämpfen an, gewann manchmal und verlor häufig. Und eines Tages, im Frühjahr des Jahres 2011, blieb sie ganz zu Hause, im heimatlichen Wolgograd. Sie hatte keine Lust mehr auf Monaco. Keine Lust zu trainieren. Dafür um so mehr, alles hinzuwerfen.
Rückbesinnung auf Altbewährtes
Was dann geschah, habe ich von ihrem ersten Trainer Jewgeni Trofimow erfahren, mit dem ich über die Jahre hinweg in Kontakt geblieben bin. Anfangs litt er sehr unter seinem Rauswurf als Trainer und verfolgte Lenas Karriere und Absturz aus der Ferne. Doch eines Tages, bezeichnenderweise am Vergebungssonntag, dem letzten Sonntag vor der österlichen Fastenzeit der orthodoxen Christen, klingelte bei ihm in Wolgograd das Telefon: „Guten Tag, Jewgeni Wassiljewitsch, ich bin‘s, Lena.“ Atheisten aller Länder, wenn das kein Zeichen war!
Es sprudelte aus ihr heraus. Sie bat ihn um ein Treffen. In Jewgeni Trofimow wurde der alte Schmerz wieder wach. Doch er sah das Häuflein Elend und ahnte, was mit seinem ehemaligen Schützling los war. Und dieser Sonntag heißt auch in diesem Fall nicht umsonst Vergebungssonntag. Sie trafen sich. In einem fast leeren Restaurant ließ Jelena ihren Sorgen und Tränen freien Lauf: Sie sei zurück aus dem Ausland, habe ihren Coach Witali Petrow bereits informiert, dass sie wieder mit ihm, Trofimow, trainieren wolle. Wenn daraus nichts würde, so flehte ihn an, wenn er ablehnen sollte, wäre es aus mit dem Sport. Ganz und gar. Für immer.
Trofimow konnte es nicht über sich bringen, dass diese Ausnahmesportlerin einen so unrühmlichen Schlussstrich unter ihre Karriere ziehen wollte. Er versprach, sich alles in Ruhe zu überlegen. Und bereits am 8. März 2011, dem Internationalen Frauentag, an dem man in Russland keiner Vertreterin der holden Weiblichkeit einen Wunsch abschlägt, saß Jelena mit ihren Eltern bei Jewgeni Trofimow am Wohnzimmertisch und er sagte zu.
Neuanfang
Der Trainer und sein Schützling waren sechs Jahre lang getrennt gewesen. Aber Trofimow, der Jelena von frühester Jugend an trainiert hatte, sah mit sicherem Auge, woran er arbeiten musste und wie er ihre Leistungsfähigkeit wieder herstellen konnte. Also fingen sie an zu trainieren.
Wie ging es weiter? Im Februar dieses Jahres meldete sie sich beim Leichtathletik-Meeting 2012 in Stockholm glorreich zurück und stellte mit 5,01 Meter einen neuen Hallen-Weltrekord auf. Bei den Weltmeisterschaften in Istanbul gewann sie ihre nächste Goldmedaille. Die Sportlerin und ihr Trainer hatten ganz offensichtlich hart gearbeitet, und Jelena scheint zu ihrer alten Form zurückgefunden zu haben.
Olympia im Blick
Sie gilt nun als Favoritin für das Londoner Olympia-Gold. Doch auf einen Sieg zu wetten, wie in Athen und Peking, scheint mir dennoch gewagt. Zwar ist sie Trägerin des Laureus World Sports Awards, der höchsten Auszeichnung für Sportler von olympischen Gnaden und Weltrang der Jahre 2007 sowie 2009 und gilt als berühmteste aktive Sportlerin Russlands, und dennoch: Die Issinbajewa wird bei den Olympischen Spielen in London 30 Jahre alt sein. Sie hat zahlreiche Verletzungen und viele Enttäuschungen hinter sich. In der russischen Presse wetten Neunmalkluge bereits auf einen bevorstehenden Sieg, ihre Goldmedaille gilt als gesetzt. Das erzeugt psychologischen Druck und auch die Schar der Konkurrentinnen ist über die Jahre deutlich gewachsen.
Doch ich will mir ausmalen, was in London passieren könnte: Sie wird ihre drei Versuche springen: Den ersten mit einem pinkfarbenen Stab über eine Höhe, die außer ihr auch noch einige andere schaffen. Das dient dem Warmlaufen. Mit einem himmelblauen Stab kommt sie, wenn sie sich unter den stärksten Rivalinnen durchsetzen muss. Mit einem goldenen Stab erscheint sie, wenn, so Gott will, die Stunde für einen neuen Weltrekord geschlagen hat. Das kommt mit in den Kopf, wenn ich an London denke. Denn es war in London, wo Jelena Issinbajewa am 22. Juli 2005 als erste Frau im Stabhochsprung die 5 Meter übersprang. Bis heute ist sie die einzige geblieben. Und wir Journalisten lieben nun einmal Parallelen über alles.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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