Archivarbeit gegen das Vergessen: Professor Viktor Kirillow. Foto: Pressebild
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die deutsche Minderheit eine der zahlenstärksten in der Sowjetunion. 1924 billigten die Bolschewiken gar die Gründung einer „Autonomen Republik der Wolgadeutschen“, was allerdings die späteren Repressalien gegenüber den sowjetischen Deutschen nicht verhinderte.
Am 28. August 1941 legte der Oberste Sowjet den Erlass „Über die Umsiedlung der Deutschen aus der Wolgaregion“ vor. Die Strategie der Behörden: Angeblich hatte man in diesem Volk Tausende Saboteure und Spione entlarvt. Im Herbst wurden 433 000 Menschen in den Ural, nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Den einen ließ man nicht einmal Zeit, ihre Koffer zu packen, andere konnten immerhin Lebensmittel für unterwegs, Kleidung und Haushaltsgerät mitnehmen.
Auf den weiten Weg ging es im Eisenbahnwaggon oder im Schleppkahn. Viele starben bereits während der Reise.
Die Überlebenden hatten sich noch nicht eingerichtet, als im Januar 1942 ein neuer Erlass die Einberufung in die Arbeitsarmee anordnete. „Zuerst haben sie nur die Männer von 17 bis 50 Jahren eingezogen, dann reichten die Ressourcen nicht mehr aus und Invalide, Frauen und Jugendliche wurden mobilisiert“, erzählt Arkadij Anton. Er wurde mit 15 Jahren eingezogen. „In der Regel wurden wir für körperlich schwere Arbeiten eingesetzt: Bäume fällen, Kohle schaufeln, Steine aus Kiesgruben karren.“
Die Mobilisierten galten zwar nicht als Häftlinge, mussten aber wie diese hinter Stacheldraht in Baracken hausen, eine Person auf anderthalb Quadratmetern Fläche. Zur Arbeit eskortierte sie eine Wachmannschaft. Aufgestanden wurde um fünf, Appell war um sechs, von 7.00 bis 19.00 Uhr Arbeitsdienst. Aus den Erinnerungen des Arbeitssoldaten Roman Bauer: „Wir verluden Sand in Waggons für das Betonwerk. An einem Tag schaufelten wir 36,5 Kubikmeter, jeder Kubikmeter wog 1800 Kilogramm, insgesamt also 66 Tonnen. Dafür bekamen wir pro Tag 300 Gramm Brot und eine Schüssel Erbsen.“
Nicht besser erging es den Frauen. Aus den Erinnerungen einer
Deutschen aus Nischni Tagil: „Der Kolchos-Vorsitzende jagte uns aus dem Dorf. Meine Schwester Emma mit ihren drei Kindern und noch eine weitere Frau, die fünf Kinder hatte, gingen in den Wald, bauten sich aus Zweigen Hütten und bedeckten sie mit einer Grasnarbe. Tagsüber suchten die Mütter nach Essbarem: Weizen- oder Roggenähren, gefrorene Kartoffeln vom Feld, Brennnesseln. Wenn sie jemandem über den Weg liefen, nahm man ihnen alles ab. Eines Tages kehrte Emma vom Feld zurück und fand ihre Tochter tot auf. Vor Hunger hatte sie sich die Fingerkuppen abgebissen.“
1946 wurde die Arbeitsarmee aufgelöst, die Deutschen aber ließ man dort, wohin man sie umgesiedelt hatte, in der Nähe der Fabriken. Einmal im Monat mussten sie sich in der Kommandantur melden. Wer floh, riskierte 20 Jahre Straflager. Einen Personalausweis erhielten sie erst wieder ab 1955.
Die meisten Beschränkungen wurden nach Stalins Tod zurückgenommen, doch noch bis 1972 hatten die Umgesiedelten kein Recht auf die Rückkehr an ihre alten Wohnorte. Viele hatten sich auch so an den Ural gewöhnt, dass sie nicht mehr zurück wollten.
Ende der 90er-Jahre, nach Verabschiedung des Gesetzes über die Wiedergutmachung gegenüber Repressionsopfern, wurde in Nischni Tagil das erste Denkmal für die sowjetischen Deutschen errichtet. „Anfangs war die Resonanz nicht groß, aber vor ein paar Jahren erhielten wir plötzlich Post von Kindern und Enkeln der Arbeitssoldaten. Die bringen zwar die Bezeichnungen und Ereignisse manchmal etwas durcheinander, aber das Interesse an der Vergangenheit ist noch immer groß“, sagt der Leiter der Labors für Geschichtsinformatik, Professor Viktor Kirillow.
Anfragen zu den Arbeitssoldaten kann man an das Labor für Geschichts-informatik in Nischni Tagil richten hislab@ntspi.ru.
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