Elista, die Hauptstadt Kalmückiens, ist gleichzeitig die Hauptstadt der russischen Schachkultur. Foto: Lizzie Whitebread / Flickr
Der leuchtende Weg aller Kalmücken
„Lasst alle Träume wahr werden! Lasst alle lebenden Geschöpfe frei von Leid, Gefahren, Krankheiten und Trauer sein! Mögen Friede und Freude die Welt beherrschen!“ Mehr als 200 buddhistische Mönche singen dieses Mantra vor dem Goldenen Tempel des Buddha Shakyamuni. Sie wiederholen Gebete des Buddhistenoberhaupts Telo Tulku
1. Der Buddhismus kam im 17. Jahrhundert nach Russland. 1764 wurde er als Staatsreligion anerkannt. In Burjatien, Tuwa, Kalmückien, Sabajkalsk, Irkutsk und Altaj ist er historisch die wichtigste Religion.
2. Heute gibt es etwa 1,4 Millionen Buddhisten in der Russischen Föderation. Das entspricht etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Bis auf die Kalmücken leben die russischen Buddhisten vor allem in Sibirien.
3. 1979 reiste der Dalai Lama erstmals nach Russland, dann wieder in den 90er-Jahren. Seit 2004 wird ihm die Einreise verweigert, weil Russland um die guten Handelsbeziehungen zu China fürchtet.
Rinpotsche. Dann hüllt sich der ganze Platz in Schweigen, die Menschen versinken in tiefer Meditation.
Nicht in Indien spielt sich die Szene ab, auch nicht in China, sondern in Elista, Hauptstadt der Republik Kalmückien, 1000 Kilometer südlich von Moskau. Knapp 300 000 Einwohner hat die Republik, und die 160 000 Kalmücken unter ihnen versuchen seit dem Ende der Sowjetunion, die traditionelle Philosophie und Kultur des tibetischen Buddhismus wiederzubeleben.
Nach Einbruch der Dunkelheit werden Tausende Kerzen angezündet. Die Mönche aus Tibet, Thailand, den USA sowie den anderen beiden buddhistischen Regionen Russlands, Burjatien und Tuwa, segnen die Gläubigen. Dann steigen von Kerzen hell erleuchtete Ballons in den Himmel, bilden einen Weg des Lichts in der Dunkelheit. „Das ist unser leuchtender Weg“, flüstert jemand in der Menge.
Ein Lichtgeschenk an Buddha
Diese Zeremonie, ein Lichtgeschenk an Buddha, wurde in der Form zum ersten Mal im vergangenen Herbst unter den Buddhisten Russlands gefeiert - sym bolisch zur Eröffnung eines internationalen Buddhismus- Forums in Elista. Trotz Einwänden der chinesischen Parteiführung sandte auch der Dalai Lama 30 tibetische Mönche, um den wichtigsten buddhistischen Tempel Kalmückiens und seine 17 Buddhastatuen zu segnen. Seit 2005 schmückt der Tempel das Zentrum von Elista zusammen mit einer neun Meter hohen Buddhastatue.
„Möge dir ein leuchtender Weg beschieden sein“, sagen die Kalmücken, wenn sie sich treffen. Es ist der bescheidene Gruß eines kleinen und armen Volkes in einer topfebenen und aus sandiger Steppe bestehenden Region, die – wenn die Versteppung weitergeht - zur ersten Wüste in Europa werden könnte. Es wäre gut, wenn Buddha die Bevölkerung davor bewahren könnte.
Ein Zentrum, das den Menschen Hoffnung gibt
Der Dalai Lama ist das geistliche Oberhaupt der Kalmücken. Foto: CORBIS / FOTO SA
Eines der wichtigsten Ziele der 1917 an die Macht gekommenen Bolschewiki war die Auslöschung der Religion: Die unter Lenin begonnene Kampagne führte während des stalinistischen Terrors der 1930er-Jahre zur praktischen Liquidierung der religiösen Institutionen. Und während es in großen Teilen des Landes hauptsächlich die Orthodoxe Kirche traf, wurden in Kalmückien die buddhistischen Gebetshäuser, Tempel und Heiligtümer zerstört, die Bevölkerung für 17 Jahre nach Sibirien verbannt.
Die Kalmücken sind ein westmongolisches Volk, das Ende des 16. Jahrhunderts in seinen heutigen Siedlungsraum einwanderte. Heute ist Kalmückien die zweitärmste Region Russlands: Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent und ist damit doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt. Doch der Buddhismus hilft den Kalmücken, mit der harten Wirklichkeit fertig zu werden. „Wir haben schon viel Schlimmeres erlebt“, erzählt die 84-Jährige Jewdokija Kusajewa. Sie hat Tränen in den Augen, als sie sich an die Deportation unter Stalin erinnert: „In einer Oktobernacht 1943 haben sie die gesamte Bevölkerung in schmutzige Viehwaggons gesteckt und nach Sibirien verfrachtet. Tausende sind während der Reise gestorben. Ich kann mich an die gestapelten Toten auf den Bahnsteigen erinnern.“ Noch bis in die späten 80er-Jahre war es für Kusajewa gefährlich, eine Kerze für Buddha anzuzünden, geschweige denn, diese mit einem Ballon in den Himmel steigen zu lassen. Sehr zu ihrer Freude wurden in Kalmückien in den letzten zehn Jahren 55 neue buddhistische Gebetshäuser und 30 Tempel gebaut.
„Wir tun dies, um die Leute glücklich und friedvoll zu machen“, sagt Alexander Nemejew, Geschäftsmann aus dem kleinen Dorf Uldutschiny. Dabei deutet er auf die goldene Buddhastatue im örtlichen Tempel, die er vor zwei Jahren gestiftet hat. Vor Kurzem kamen 100 Buddhisten ins Dorf, um zu beten, darunter auch tibetische Mönche.
„Der Tempel ist schön und gut, aber er ernährt uns nicht.“
Nicht alle Dorfbewohner nahmen an der Zeremonie teil. „Der Tempel ist ja schön und gut, aber er ernährt uns nicht“, sagt Chondor, 47, Elektriker und seit einigen Jahren Witwer, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Er wohnt mit seinen Kindern in einem bescheidenen Zweizimmerhaus. Immerhin, so sagt er, besetze er eine der beiden einzigen Vollzeitstellen im Dorf. Chondors Kinder Awejasch (14) und Nagaila (13) träumen davon, Kalmückien zu verlassen und in Moskau oder Sankt Petersburg zu studieren. Die buddhistischen Oberhäupter Kalmückiens lassen verlauten, dass sich ihre Bemühungen nicht nur auf den Tempelbau konzentrierten, der auch vom Staat mitfinanziert wird, sondern auf die Wiederbelebung der buddhistischen Werte wie Mitgefühl, Liebe, Freundlichkeit und Vergebung.
Gebeutelt von zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher und sozialer Krisen, reisten Kalmücken häufig zum zentralen Tempel der Republik, um ihre Seele zu heilen, erzählt das geistliche Oberhaupt Telo Tulku Rinpotsche: „Wir sind ein psychologisches Zentrum, das den Menschen Hoffnung, moralische Unterstützung und spirituelle Orientierung gibt.“
Auch der 2010 zurückgetretene kalmückische Präsident Kirsan Iljumschinow unterstützte während seiner mehr als 15-jährigen Regierungszeit die Lehren des Buddhismus. Diese hätten Kalmückien letztendlich davor bewahrt, in den Sog der Terroristenkriege des angrenzenden Nordkaukasus zu geraten.
Anna Nemzowa ist Russland-Korrespondentin des US-Magazins Newsweek.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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