Bild: Natalja Michajlenko.
Vor zwei Jahren belegte Wladimir Putin im Forbes-Rating der mächtigsten Politiker die zweite Stelle, gleich hinter Barack Obama und noch vor dem chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao. Das ist natürlich Nonsens. Objektiv betrachtet hat Russland und damit auch sein Staatsoberhaupt heute weniger Einfluss auf das Weltgeschehen als China.
Doch allzu oft wird Putin gesondert von dem Land betrachtet, das er regiert. Dafür trägt er weder Verantwortung noch Schuld. Der Präsident Russlands ist zu einem Symbol für die aktuelle Weltlage geworden – für die einen im positiven, für die anderen im negativen Sinne. Putin steht heute für jene unklare Übergangssituation, in der sich die Weltpolitik zu befinden scheint.
Putin kam mit dem Versprechen einer neuen Stabilität für Russland an die Macht. Damals blickte die Welt nach dem Sieg des Westens im Kalten
Krieg auf eine Phase der Euphorie zurück. Es war der Anbruch einer neuen Zeit, in der Instabilität und Unbestimmtheit aufgrund des verloren gegangenen politischen Gleichgewichts immer stärker zu Tage traten. Putin wird von vielen als waschechter Feind des Fortschritts, als Symbol veralteter Sichtweisen und altmodischer Herangehensweisen gesehen. Der Präsident selbst scheint in stiller Wut über die Politik der anderen führenden Mächte erstarrt, nur hin und wieder entlädt sich diese in einem Ausbruch.
Symbol des Widerstands
Durch seine Texte und Reden zieht sich der immer gleiche Gedanke: Die Welt ist gefährlich und unvorhersehbar, und die Handlungen der großen Länder machen alles nur noch schlimmer.
Putin steht mit dieser Sichtweise nicht alleine da. Er ist zur Speerspitze jener geworden, die seine Widerstandshaltung teilen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens ist Russland, ungeachtet des tiefen Falls nach dem Ende des Sowjetunion, heute eines der politisch aktivsten und ambitioniertesten Länder. Zweitens ist es aufgrund der russischen Nuklear- und Rohstoffmacht schlichtweg unmöglich, das Land einfach zu ignorieren. Und drittens verfügt Putin über einen besonderen Charakterzug: Für einen Politiker seines Ranges ist er außergewöhnlich direkt und schonungslos in seinen Äußerungen.
Von der Seite betrachtet erscheint Putin vielen Menschen als listiger Stratege, der den großen Plan einer sorgfältig geplanten Expansion und Wiederherstellung des früheren russischen Imperiums verfolgt. Dies verleiht dem Bild des Präsidenten Russlands eine zusätzliche Aura der Macht. Dabei glaubt Putin selbst nicht an Strategien.
Der russische Präsident ist auch ein Reaktionär. Er handelt als Antwort auf Impulse, sei es von außen oder von innen. Nur wer die Quelle und den Charakter einer Herausforderung kennt, kann darauf auch genau reagieren und macht keine Fehler.
Doch heute reagiert Putin auch, indem er Neuerungen rückgängig macht. Das war zu Beginn noch kein für ihn typisches Merkmal. Es war ein schrittweiser Prozess, während dessen Putin zu der Überzeugung gelangte, dass alles Neue zu einer Verschlechterung führt. Wie viele seiner konservativen Vorgänger ist Putin überzeugt, dass das Land Zeit für eine stabile, nachhaltige und steuerbare Entwicklung braucht und es noch zu früh ist, alles dem Fluss der Demokratie zu überlassen.
Alles zu seiner Zeit
In den vergangenen Jahren wurde das Gerüst eines Staates wiederaufgebaut, das in den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch
der UdSSR, weitgehend zerstört worden war. Man müsse dieses Gerüst nun stabilisieren und fertig stellen und das benötige Zeit, sagte Putin im Februar vor den Wahlen. Die Wortwahl scheint nicht zufällig: Er will keinen Umbau (Perestroika) – jene Politik, die einst von Gorbatschow ausgerufen wurde und heute für viele als Synonym der Katastrophe gilt. Stattdessen will Putin beenden, was bereits begonnen wurde und dabei auf demselben Fundament aufbauen.
Putin versteht, dass die Proteste, mit denen die Gesellschaft seiner Rückkehr auf den Posten des Präsidenten begegnete, nicht nur das
Resultat einer Agitation durch den Westen ist. Daran glaubt er natürlich auch, doch die Proteste sind auch Zeugnis sozialer Veränderungen. Dabei ist er überzeugt, dass sogar die ehrlich Protestierenden Unrecht haben. Schließlich braucht es ja noch Zeit, bis alles vollendet ist, so Putins Überzeugung. Zurück auf dem höchsten Posten, hält Putin keine Lösungen für die aktuellen Probleme parat. Zurückgekehrt ist er dafür mit dem Gefühl einer allgemeinen Gefährdung und Zerbrechlichkeit von allem, was ihn umgibt.
Man kann Putin den Mangel einer Strategie jedoch nicht vorwerfen in einer unberechenbaren Zeit, in der niemand eine Strategie hat und es auch beinahe sinnlos scheint, eine zu haben. Die Erfahrung Europas zeigt, dass auch scheinbar durchdachte und zuverlässige Konstruktionen wie Kartenhäuser zusammenfallen können. Als Realist und Konservativer bewertet Putin das aktuelle Geschehen zwar recht nüchtern, findet dabei aber keine Antworten auf die vielen Herausforderungen.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russland in der globalen Politik.
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst in der Zeitschrift Ogonjok.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!