Die Werke von Wladimir Sorokin Werke lösen heftige Kontroversen aus. Foto: AFP / East News.
Der Schneesturm als eine Metapher des russischen Lebens
Russland HEUTE: In Ihrer Novelle „Der Schneesturm“ verkörpert der Landarzt Garin die soziale Schicht der Intelligenz. Der zweite Protagonist, der dörfliche Brotkutscher Kosma, steht für das einfache Volk. Warum haben Sie für Ihren Text ausgerechnet diese beiden Typen des 19. Jahrhunderts gewählt?
Wladimir Sorokin: Seit dem 16. Jahrhundert stellt Russland eine Art Pyramide dar. Oben an der Spitze steht Moskau, wo sich die gesamte Macht konzentriert, während sich die Provinz ganz unten befindet. Zwischen Hauptstädtern und Provinzlern, Staatsdienern und Normalbürgern, klaffte stets ein Abgrund. Die Intelligenzler hatten ihren Platz in der Mitte, sie gehörten also gewissermaßen weder zur Macht noch zum Volk. Da die Intelligenz zu gebildet war und eine gänzlich andere Sprache sprach, war sie dem Volk nicht näher als die Mächtigen.
Diese Distanz besteht in Russland bis heute. Die Beziehung zwischen den beiden so unterschiedlichen Protagonisten in meiner Novelle ist so archetypisch und grotesk, sie wollte förmlich literarisch verarbeitet werden! Wobei der titelgebende Schneesturm genau genommen als dritter Protagonist in Erscheinung tritt. Er ist nicht nur eine Dekoration des Geschehens, sondern etwas Lebendiges, von dem das Leben der Menschen abhängt. Immerhin ist so ein Schneesturm eine sehr gefährliche Sache.
Haben Sie das schon einmal am eigenen Leib erfahren?
Nein. Aber mein Großvater war Forstaufseher und hat mir erzählt, wie er einmal nachts bei einem heftigen Schneesturm mit dem Pferdeschlitten unterwegs war. In der Dunkelheit kam er knapp drei Kilometer weit, dann verirrte er sich und das Pferd blieb stehen. Um nicht zu erfrieren, hat mein Großvater den Schlitten Stück für Stück zerhackt und verbrannt. Nachdem sich der Schneesturm gegen Morgen gelegt hatte, kam er mehr tot als lebendig nach Hause.
Schon Alexander Puschkin und Alexander Block nutzten den Schneesturm als Symbol in ihren Werken. Wofür steht diese Naturgewalt bei Ihnen?
Ich wollte zeigen, dass ein Schneesturm in Russland mehr ist als Wind, Schnee und Frost. Er stellt in mehrfacher Hinsicht eine Metapher des russischen Lebens dar. Warum verlieren die Russen beispielsweise im
Fußball, während sie im Eishockey und Eiskunstlauf gewinnen? Weil sie nicht auf festem, verlässlichem Grund leben, sondern auf kaltem, glatten Eis. Man muss lernen, über dieses Eis zu gleiten, hin und wieder auch in komplizierten Zickzack-Formationen. Verstehen Sie die Metapher? In Russland werden uns jeden Tag Zickzacks abverlangt und wir wissen nicht, ob wir irgendwann stürzen oder das Eis bricht. Bei einem Schneesturm ist das im Grunde auch so. Wenn Sie im Winter nur ein Stück aus der Stadt herausfahren, nur fünf Kilometer, und in einen Schneesturm kommen, dann geraten Sie quasi in eine Zeitmaschine. Sie verlieren die Orientierung und wissen nicht mehr, in welchem Jahrhundert Sie sind. Das Buch „Der Schneesturm“ beginnt scheinbar im 19. Jahrhundert, doch dann stellt sich heraus: Die gesamte Handlung spielt in einer Zukunft, in der die Vergangenheit und die Hochtechnologien zueinander in Beziehung treten.
Der Landarzt Garin wird am Ende der Novelle von Chinesen vor dem Tode gerettet. Dieses Volk taucht bei Ihnen auch in anderen Werken auf, beispielsweise in „Der Tag des Opritschniks“ und in „Der Zuckerkreml“. Warum retten gerade Chinesen den russischen Intelligenzler?
Ich denke, dass bereits in etwa zehn Jahren die zweite Sprache in Russland nicht mehr Englisch, sondern Chinesisch sein wird, weil nämlich die Chinesen allmählich Sibirien erobern. Und ich halte das für einen sehr positiven Prozess! Die Chinesen bringen frisches, energiegeladenes und gesundes Blut in die von Alkohol und Entbehrungen geschwächten Arterien der Sibirier. Haben Sie schon einmal die russisch-chinesischen Ehepaare in Sibirien gesehen? Ich schon. Den hübschen und gesunden Kindern aus diesen Mischehen gehört die Zukunft.
"Die Staatsmaschine in Russland ist kaputt"
In einem Interview haben Sie einmal gesagt, in Russland sei die Staatsmaschine kaputt und ließe sich nicht mehr reparieren. Worin sehen Sie die Symptome dieses Defekts?
In Deutschland kann zum Beispiel jeder sagen: Der Staat, das bin ich. Dabei spielt es keine Rolle, als was dieser Mensch arbeitet: als Kinokarten-Verkäufer, als Beschäftigter bei der Müllabfuhr oder als Altenpfleger. Es kommt vor allem darauf an, dass er seinen Platz gefunden hat und sich für sein Land verantwortlich fühlt. In Russland ist das anders. Niemand schert sich um irgendetwas, gleichgültigere Menschen als im postsowjetischen Russland kann man sich schwer vorstellen. Allerdings war ich noch nicht in Afrika. Vielleicht sind die Menschen dort ja noch gleichgültiger?
Wie ließe sich die Staatsmaschine denn reparieren und die menschliche Gleichgültigkeit in Russland therapieren?
Stellen Sie sich vor, in Ihrer Wohnung liegt der Leichnam Ihres Großvaters, der zu Lebzeiten ein Verbrecher war. Die Leiche ist irgendwo in einer Ecke versteckt, wohin nur selten einmal jemand schaut. Die Leiche verwest und stinkt, aber Sie laden Gäste ein, kaufen sich neue Sachen, schmücken die Wohnung und tun so, als sei alles in bester Ordnung. Doch der Gestank in Ihrer schönen und modernen Wohnung vergiftet nicht nur Sie, sondern auch Ihre Kinder, Ihre Gäste. Alle Versuche, in dieser Wohnung ein geregeltes Leben zu führen, sind im Grunde vergeblich, weil da immer noch eine Leiche liegt.
Dann muss man sie eben begraben!
Das ist ja gerade das Problem. Das postsowjetische Russland hat sich bis heute nicht mit seiner sowjetischen Vergangenheit auseinandergesetzt und die Leiche nicht begraben, wie das die Deutschen getan haben. Stellen Sie sich vor, es hätte die Nürnberger Prozesse nicht gegeben. Dann würden in Deutschland bis heute alte SS-Männer Niederträchtigkeiten brüllen und dafür nicht bestraft werden. In Russland schalten die Leute den Fernseher ein und bekommen Dokumentarfilme über unsere ruhmreichen Tschekisten serviert, die in den 30er Jahren die Feinde der Sowjetunion in Europa liquidiert haben.
Als Sie einmal die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts in Russland mit einem einzigen Wort charakterisieren sollten, haben Sie „silowiki“ gewählt (Anm. d. Red.: Seit den 90er Jahren eine inoffizielle Bezeichnung für meist ranghohe Vertreter der Geheimdienste und der Streitkräfte in den einflussreichen russischen Ministerien). Mit welchem Begriff würden Sie Russland heute definieren?
Auf jeden Fall nicht mehr mit „silowiki“. Heute würde ich „smutnoje wremja“ („Zeit der Wirren“) wählen. Nach den Ereignissen des vergangenen Winters ist die absolute Herrschaft der Silowiki ins Wanken geraten. Die tektonische Platte, auf der der Staat ruht, hat sich zu bewegen begonnen.
Die Frage ist, welches Wort Russland in ein paar Jahren charakterisieren wird. Vielleicht „opritschnina“ (Anm. d. Red.: Abschnitt in der russischen Geschichte des 16. Jh., als sich Zar Iwan der Schreckliche mit Staatsterror, Repressalien und einer eigenen Leibgarde, den „opritschniki“, durchsetzte). Vielleicht passt dann aber auch das russische Wort „bunt“ (dt.: Rebellion, Aufruhr). Was gegenwärtig in Russland geschieht, ist noch keine Rebellion, schließlich ist noch keine einzige Glasscheibe zu Bruch gegangen. Bei einer Rebellion fließt Blut. Was sich heute bei uns abspielt, sind friedliche Protestdemonstrationen.
Sie haben mehrfach geäußert, Russland sei aufgrund seiner Absurditäten ein ideales Land für einen Schriftsteller. Da kann Deutschland sicher nicht mit Russland mithalten. Gibt es in Deutschland möglicherweise trotzdem etwas, worüber Sie schreiben könnten?
Im Hinblick auf die Fülle der Themen ist Russland in der Tat ein Eldorado! In Deutschland habe ich auch einige Sujets gefunden, die durchaus grotesk sind, aber an die russischen reichen sie nicht heran. Das Groteske in Russland ist schon einmalig! Immerhin leben die Menschen in Deutschland ein vernünftiges, geordnetes Leben. Sie sind verantwortungsbewusster. Ein demokratischer Staat, ein etabliertes Gesundheitswesen, ein geregeltes politisches Leben, normale Gerichte.
Andererseits bricht gerade in solchen Wohlstandsgesellschaften wie der Schweiz und Deutschland der Wahnsinn der Ordnung aus. Irgendjemand hat einmal scharfsinnig bemerkt, dass die Welt durch zwei Extreme bedroht wird: die Ordnung und die Unordnung. Franz Kafkas Werke sind, nebenbei bemerkt, unter dem Eindruck der idealen bürokratischen Maschinerie entstanden. Vielleicht schreibe ich auch irgendwann einmal über die deutsche Ordnung und darüber, was sie mit den Menschen macht.
Der 1955 in Bykowo geborene Wladimir Sorokin absolvierte ein Ingenieurstudium in Moskau. Er beschäftigte sich mit Graphik, Malerei, Buchdesign und Konzeptkunst und gestaltete und illustrierte etwa fünfzig Bücher. Sorokin hat bereits zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen und Romane geschrieben. In seinen Anti-Utopien „Der Tag des Opritschniks" und „Der Zuckerkreml" entwirft er ein wenig optimistisches Zukunftsbild Russlands. Aus Sorokins Feder stammen die Drehbücher zu zahlreichen russischen Filmen.
Wladimir Sorokin ist der wohl meistkritisierte Gegenwartsautor Russlands. Seine Werke lösen selbst in literaturfernen Kreisen heftige Kontroversen aus. Anhänger der Kreml-nahen Jugendbewegung „Naschi" (Die Unsrigen) warfen auf einem zentralen Moskauer Platz Sorokins Bücher in die Plastiknachbildung eines Toilettenbeckens. Der Roman „Himmelblauer Speck" brachte dem Autor ein Gerichtsverfahren „wegen Verbreitung pornografischen Materials" ein, bei dem er jedoch freigesprochen wurde.
Sorokin ist Träger mehrerer Literaturpreise, u.a. „Narodny Buker" (Volksbooker) und „Bolschaja kniga" (Das große Buch) und wurde auch in Deutschland für sein literarisches Schaffen geehrt.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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