Marschrutki, oder Richtungstaxis sind in Russland besoders beliebt. Foto: Lori / Legion Media
Marschrutki, also Richtungstaxis, heißt in Russland ein äußerst beliebtes Nahverkehrsmittel. Sie kosten im Prinzip eben so viel wie eine Busfahrt, wenn man die Karte im Bus löst, haben aber den großen Vorteil, dass sie überall auf Wunsch der Fahrgäste anhalten dürfen, nicht nur an den regulären Haltestellen.
Etwas teurer sind in Moskau die Linien, die zu den Flughäfen oder ins Moskauer Gebiet fahren. Es gibt keinen Fahrplan. Wenn alle Plätze besetzt sind, geht es los. In der Hauptverkehrszeit stehen sogar manchmal ein paar Mutige. Das ist bei dem Fahrstil der ungeduldigen Fahrer nicht einfach. Weil ja bekanntlich Zeit Geld ist, kommen sie sogar in Staus schneller voran als andere, Bürgersteige und Randstreifen gnadenlos ausnutzend.
In Moskau gibt es neuerdings von den Autofahrern gehasste Busspuren, die dürfen auch die Marschrutki zur Freude der Fahrgäste nutzen.
Bis vor kurzem verkehrten in Moskau noch hauptsächlich die gelben Marschrutki, Fahrzeuge aus dem Autowerk in Nischni-Nowgorod, was zu Sowjetzeiten Gorki hieß. Diese Gazellen, sie heißen wirklich so, sind nicht das Gelbe vom Ei. Selbst neue Fahrzeuge klapperten bereits nach kürzester Zeit und die Sitze waren durchgesessen. Die Türen konnten nur mit viel Kraft zugeknallt werden, was den Unmut des Fahrers hervorrief und zu Schildern wie „Nicht mit den Türen knallen!“ führte.
Wer sich daran hielt, wurde von den Fahrgästen angeknurrt, weil die Tür nicht zu war und es zog wie Hechtsuppe. Sie waren auch recht klein und beim Einsteigen holte man sich Beulen am Kopf. Folgerichtig schrieben dann humorvolle Fahrer „Platz zum Kopfstoßen“ an diese Stellen. Der früher geprägte Spruch: „Hüte dich vor schönen Frauen und Autos, die die Russen bauen!“ hat schon seine Berechtigung.
Diese gelben Klapperkisten machen mehr und mehr ordentlichen Minibussen ausländischer Produktion Platz, die sogar Klimaanlage haben und automatische Türen. Man kann auch hoch erhobenen Hauptes einsteigen, ohne sich Beulen zu holen.
Männern wird oft vorgeworfen, sie könnten nicht zwei Dinge gleichzeitig tun. Das trifft auf die Fahrer der Richtungstaxis auf keinen Fall zu. Sie kassieren das Geld, was ihnen ständig über die Schulter gereicht wird, erfüllen die Haltewünsche der Passagiere, suchen nach Wechselgeld, telefonieren mit dem Handy und flirten mit den weiblichen Fahrgästen, die sich in der Fahrerkabine befinden. Sie müssen auch ständig Ortsunkundigen die Route erklären, denn oft steht nur eine nichts sagende Nummer am Fahrzeug. Und das tun sie alles, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen.
Wer mit in eine Marschrutka einsteigt, durchlebt eine gewisse Metamorphose als Passagier. Fährt er in Bussen und Straßenbahnen vielleicht manchmal schwarz oder ist einfach nur unhöflich, benimmt er sich hier anständig. Es bricht die Höflichkeit gerade zu aus den Leuten heraus. „Seien Sie so liebenswürdig und halten bitte an der Straßenecke an!“ kriegt man da zu hören, oder „Nehmen Sie bitte das Fahrgeld!“ Solidarisch sammeln die Fahrgäste das Geld von mehreren ein, geben Wechselgeld und erleichtern so dem Fahrer die Arbeit. Das ist bei der immer stärker um sich greifenden Grobheit und Unhöflichkeit schon erstaunlich.
An manchen Linien stehen die Fahrgäste sogar in Gänsereihe an. Das ist wirklich bemerkenswert, denn an Straßenbahn- oder Bushaltestellen zum Beispiel stürmt alles in einem Haufen auf die kleine Vordertür zu. Einsteigen darf man in Bussen, Trolleybussen und Straßenbahnen nur noch vorne, da sind der Entwerter und eine Sperre, die sich nach Entwerten des Fahrscheins öffnet oder auch nicht. Da kommt es öfter zum Stau und zu Gefühlsausbrüchen.
Schwarzfahrer müssen durch die Sperre kriechen, was nur sportlichen Naturen gelingt. Vorher, als man durch alle Türen ins Innere gelangte, gab es mehr Schwarzfahrer als zahlende Fahrgäste. In den Marschrutki gibt es keine Schwarzfahrer. Erstens sind alle darauf eingestellt, dass gezahlt werden muss und zweitens hat der multifunktionale Fahrer auch hinten Augen und zählt andauernd die Fahrgäste. Wenn es mal einer verpennt, weil er Musik hört oder telefoniert, wird er angemahnt.
Das Telefonieren, eine hierzulande viel ausgeprägtere Krankheit als in Deutschland, ist in den Marschrutki pikant. Auf engem Raum, bei nicht sehr lauter Geräuschkulisse kann man entspannt alle Familiengeheimnisse und Firmeninterna mithören. In der Metro, wo es jetzt auch an vielen Stellen Netz und sogar Welan gibt, ist es witziger. Da wird auch telefoniert, aber bei einem Höllenlärm. Herausgeschrieene Bekenntnisse haben doch was, oder? Oft schreien die Angerufenen aber auch bloß „Bin in der Metro! Rufe zurück“! Überhaupt nicht abnehmen wäre sicher die bessere Variante, aber die Neugier siegt.
Die Linie von Metrostation Shodninskaja im Nordwesten Moskaus zur zentralen Steuerbehörde, wie hier das Finanzamt heißt, finde ich besonders gut. Dort verkehren zwar noch die gelben Gazellen, aber das Problem mit den schwer schließenden Türen hat man da nicht, denn sie rauschen ohne Halt durch. Die Passagiere tragen auf ihren Gesichtern ihre moralische Verfassung angesichts der strengen Behörde. Misstrauen, Angst, Verschlagenheit, Selbstsicherheit , Unsicherheit – alles da.
Außerdem kommunizieren alle miteinander, was sonst besonders in Moskau und anderen großen Städten unüblich ist. Die ungekrönten Königinnen dieser Linie sind Hauptbuchhalterinnen, die sich die Ehre geben, höchstpersönlich vor den Finanzgöttern zu erscheinen. Sie sind besonders leicht im Winter auszumachen, denn ihre Pelze sind die edelsten. Lüften Sie die Handschuhe, kommen 10 beringte Finger zum Vorschein. Wer hat, der kann, nicht wahr? Liefen die Geschäfte besonders gut, leisten sie sich noch einen Gigolo dazu, der ihre Tasche trägt und sie mit Hundeaugen anhimmelt. Den einfachen Buchhalterinnen steht der blanke Neid ins Gesicht geschrieben.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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