Von „Alkoholikern“ und „Trinkern“: Ein kleiner Exkurs zum Alkohol

Bild: Nijas Karim

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In Russland trinkt man viel Alkohol – am liebsten das Nationalgetränk Wodka. Oft wird das Getränk nicht nur zum Feiern oder zur Bewirtung von Gästen serviert, sondern auch bei anderen, weniger wichtigen Gelegenheiten, getrunken.

Die wohl meisten Synonyme in der russischen Sprache existieren für den Begriff „trinken": „djórnutj" („zerren"), „wrésatj" („einschneiden"), „poddátj" („servieren") – all diese und noch viele andere Verben beschreiben im Russischen den Prozess des Trinkens.

„Rusi estj weselje piti, ne moschem bes towo byti" – „In der Rus trinkt man gerne, ohne Alkohol halten wir es nicht aus." Das soll einer Legende zufolge Fürst Wladimir, der im zehnten Jahrhundert über die Kiewer Rus herrschte, gesagt haben, als er für das russische Volk statt des Islams das Christentum als Religion wählte – weil es den Genuss von Alkohol gestattete. Im 15. Jahrhundert erlernten die Slawen die Zubereitung des sogenannten „Brotweins" – so nannte man damals den Wodka, der seitdem als das russische Nationalgetränk gilt.

Traditionsgemäß wird Wodka nicht nur zu Feiern oder zur Bewirtung von Gästen getrunken; zum Beispiel kann man eine Neuanschaffung „begießen", damit sie möglichst lange ungestört funktioniert. Wenn man allerdings trinken will, bedarf es keines konkreten Anlasses. Sagt jemand „Irgendwie ist mir kalt...", beendet garantiert fast jeder Russe den Satz mit dem populären Spruch: „...sollten wir dann nicht etwas ‚servieren'?" – das heißt also trinken, um sich aufzuwärmen.

Eine Standardflasche Wodka enthält einen halben Liter und wird deshalb umgangssprachlich auch „Null-Fünf" genannt. Dieser Begriff bezeichnet normalerweise eine Flasche mit Wodka und nicht etwa eine mit einem anderen Getränk. Alkoholische Getränke nennt man im Allgemeinen „wypiwka" („etwas zum Bechern"), in der Umgangssprache wird der Begriff „buchlo" („Gesöff") beziehungsweise das entsprechende Verb „buchatj" („saufen") verwendet.

Vor allem bei den Verben ist in der russischen Sprache für das Trinken alkoholischer Getränke eine Vielzahl von Synonymen anzutreffen; bei russischen Hochzeiten ist es ein beliebtes Spiel, die Gäste möglichst viele Varianten aufzählen zu lassen.

Zu Zeiten der Sowjetunion war, vor allem bei Studenten, neben dem Wodka auch der sogenannte „Portwejn" – der mit dem Original-Portwein allerdings wenig Ähnlichkeit hatte – sehr beliebt. Unter dieser Marke wurden billige Likörweine, also mit Alkohol angereicherte Weine verkauft, die volkstümlich „bormotucha" („Fusel") genannt werden. Bedenkt man, dass das Wort „bormotucha" vom Verb „bormatatj" („lallen") abstammt, kann man sich die Wirkung dieses Getränks auf den menschlichen Körper sehr gut vorstellen.

Wenn während eines geselligen Beisammenseins die alkoholischen Getränke zur Neige gehen, entsteht normalerweise die Notwendigkeit, sich um Nachschub zu kümmern. Deshalb lautet eine alte Weisheit bei der Vorbereitung von Feierlichkeiten: „Egal, wie viel man einkauft, es reicht nie." In diesem Zusammenhang wird der Ausdruck „poslatj gonza" („einen Boten schicken") verwendet, das heißt die verkürzte Variante des Reims „Ne poslatj li nam gonza sa butylotschkoj winza?" („Wird der Bote losgeschickt, der uns mit neuem Wein beglückt?"). In der Sowjetunion schlossen die Läden recht früh, aber Wodka konnte man jederzeit bei den Taxifahrern besorgen – natürlich mit einem gepfefferten Aufpreis.

Im heutigen Russland gab es dieses Problem bis vor Kurzem nicht, denn alkoholische Getränke konnten rund um die Uhr in Spätshops erworben werden. Vor ein paar Jahren jedoch wurde der Verkauf alkoholischer Getränke deutlich eingeschränkt. So darf in Moskau zum Beispiel nach 23 Uhr kein Alkohol, nicht einmal Bier, verkauft werden. Im Moskauer Umland ist damit bereits um neun Uhr abends Schluss.

Alkoholkonsum als gesellschaftliches Problem

Eine Parodie auf das traditionelle russische Trinkgelage kann man sich in Giorgij Danelias Komödie „Osennij marafon" („Herbstmarathon") ansehen: Ein Sankt Petersburger Philologe und ein bei ihm zu Besuch weilender dänischer Professor arbeiten gemeinsam an einer Dostojewskij-Übersetzung. Der kreative Prozess wird jedoch vom Nachbarn, einem Schlosser, torpediert. Für diesen ist es vollkommen normal, die beiden an seinem arbeitsfreien Donnerstag bereits am frühen Morgen zu einem „Gläschen" (sprich: einer Flasche) Wodka einzuladen. Da es unhöflich wäre, die Einladung auszuschlagen, trinkt der Professor mit.

Die nächsten Minuten werden am Küchentisch in peinlichem Schweigen verbracht, das durch den inzwischen zum geflügelten Wort gewordenen Spruch unterbrochen wird: „Choroscho sidim!" („Wir sitzen gemütlich zusammen"). Da es sinnlos wäre, die Arbeit an der Übersetzung fortzusetzen, trinkt der Professor mit dem Schlosser weiter. Nach einer anschließenden Einkaufstour landet der Professor in der Ausnüchterungszelle.

„Ich habe ein paar neue Wörter gelernt", erzählt der Professor am nächsten Morgen seinem Kollegen: „Ja – alkatsch". Der dänische Professor lag nur leicht daneben – richtig muss es heißen: „alkasch" („Alki"). Dies ist die allgemein übliche Form des Wortes „Alkoholiker". Genauso üblich ist es, zwischen „Alkoholikern" und „Trinkern" zu unterscheiden: Alkoholiker sind abhängig und müssen regelmäßig trinken, der Trinker dagegen vertilgt zwar hin und wieder größere Mengen Alkohol, kann aber auch eine Weile aussetzen.

Der Alkoholkonsum ist ein Schlüsselthema in einem anderen sowjetischen Film. In dem bereits Ende der Fünfzigerjahre gedrehten „Sudba tscheloweka („Ein Menschenschicksal“) beeindruckt ein sowjetischer Kriegsgefangener die deutschen Offiziere damit, dass er hintereinander drei große Gläser Wodka austrinkt, wobei er nach den ersten beiden Malen nichts – wie es in Russland üblich ist – hinterher isst. „Ein russischer Soldat isst nach dem ersten Mal nichts dazu. Na, und nach dem zweiten Male auch nicht.

Der in diesem Zusammenhang passendste Film ist allerdings „Ironija sudby" („Die Ironie des Schicksals"), ein Kultfilm aus den Siebzigerjahren. Er wird nun schon seit mehreren Jahrzehnten traditionell am Silvesterabend im Fernsehen ausgestrahlt, vergleichbar mit „Dinner for One" in Deutschland. Und dieser handelt ja auch vom übermäßigen Alkoholkonsum.

Der Held des Films, ein Bewohner einer typischen Moskauer Plattenbauwohnung, geht am 31. Dezember mit drei Freunden in die Banja, die russische Sauna. Nach ein paar Flaschen Wodka fliegt er anstelle einer seiner Freunde nach Leningrad und bemerkt im Vollrausch nicht, dass er sich in der Neujahrsnacht statt in seiner eigenen Wohnung in einer genauso standardisierten Neubauwohnung unter der gleichen Adresse, allerdings in einer anderen Stadt befindet. Die komödienhafte Klärung der Umstände mit der Bewohnerin der Leningrader Wohnung kulminiert in lyrischen Gefühlen und führt zu einem radikalen Bruch im Lebensweg der Beteiligten.

Ungeachtet der romantischen Verklärung des Alkoholkonsums stellte dieser in der Sowjetunion ein ernsthaftes soziales Problem dar. Auch deshalb versuchte Michail Gorbatschow, als er 1985 den Posten des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei übernahm, sogleich, den Alkoholkonsum einzuschränken. Auch wenn diese Verordnung gemeinhin als Prohibition bezeichnet wird, gab es doch zu keiner Zeit ein Verbot alkoholischer Getränke.

Opfer dieser Politik wurde auch das Kino: Selbst sowjetische Filmklassiker wurden nachträglich zensiert und alle Szenen, in denen übermäßig viel Alkohol getrunken wurde, herausgeschnitten.

Nach 1991 nahm der Alkoholkonsum in Russland wieder sprunghaft zu: Die Regale der Einzelhandelsgeschäfte waren voll mit der in Literflaschen gehandelten Importspirituose „Rojal". Das Fernsehen zeigte während der Primetime Werbung für Wodkasorten wie Smirnoff, Rasputin und sogar – auch wenn das für die Russen paradox war – Gorbatschow. Inzwischen hat sich die Lage stabilisiert und durchaus zivilisiertere Formen angenommen: Obwohl in den Supermärkten Dutzende, zum Teil sogar Hunderte Sorten qualitativ hochwertiger alkoholischer Getränke zu finden sind, ist der Konsum nicht mehr so exzessiv wie noch vor fünfzehn oder zwanzig Jahren. Wenn wir wollen, können wir jetzt tatsächlich erklären: „Wir sitzen gemütlich zusammen."

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