Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Foto: DPA
In Deutschland gibt es keine Meinungsfreiheit, behauptet Thilo Sarrazin. Wer nicht mit den Ansichten der Tonangeber konform geht, werde an den Rand gedrängt. „Stimmt nicht", erwidern seine Gegner. Gerade Sarrazin sei das beste Beispiel dafür, dass man hierzulande sehr viel sagen dürfe und damit sogar höchst erfolgreich sein könne. Beide Seiten haben Recht.
Das Grundgesetz garantiert die Redefreiheit. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass alle Standpunkte die gleiche Chance haben. Sagt jemand öffentlich etwas Falsches, muss er sich auf harsche Reaktionen gefasst machen. Diese Anschauungen, heißt es dann, seien abseitig, ja gefährlich und wer sie äußert, der habe damit sein Recht auf Meinungsfreiheit verwirkt.
Ob abweichende Meinungen auch den Weg in die Öffentlichkeit finden, hängt nicht zuletzt davon ab, wer sie äußert. Thilo Sarrazin beispielweise ist prominent, wohlhabend und hat seine Karriere hinter sich. Seine Werke garantieren ihm selbst und seinem Verlag reiche Einnahmen, seinen Kritikern geben sie Gelegenheit, ihre intellektuelle Potenz unter Beweis zu stellen. Alle Seiten profitieren von Sarrazins Existenz. Andererseits hat er nichts mehr zu verlieren. Wo man sich seiner entledigen konnte, hat man es schon getan, doch hart gefallen ist er nicht. Unter solchen Umständen ist es leicht, den unbequemen Querdenker zu mimen.
Helmut Schmidt und Helmut Kohl können sich ebenfalls vieles erlauben. Zum Beispiel sich verständnisvoll über Russland äußern, ohne dass deshalb ihr Kopf gefordert wird. Jüngere Ex-Kanzler haben es schon schwerer. Fordert Gerhard Schröder eine differenzierte Betrachtung russischer Politik, wird er schon als Agent des Kremls gebrandmarkt. Grüne und Konservative im Europa-Parlament beantragten, dem Putin-Freund per Beschluss das Wort verbieten: „Das Europaparlament bedauert die Äußerungen des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder über die Krise in der Ukraine und betont, dass er keine öffentlichen Aussagen zu Themen machen sollte, die Russland betreffen." Der Antrag wurde zum Glück abgelehnt.
Die Journalistin Gabriele Krone-Schmalz ist nicht ganz so prominent wie ein Ex-Kanzler. Aber man kennt Sie, die Frau mit der markanten Igelfrisur.
Auch sie hat ab und zu die Gelegenheit, ihren Standpunkt zu Russland öffentlich zu vertreten. Ein Standpunkt, der auf Sachkenntnis beruht und dem das Pathos der Empörung fremd ist. Das darf nicht sein, das ist Kreml-Propaganda. Darum unterstellen ihre Gegner ihr Käuflichkeit, anstatt sie inhaltlich zu wiederlegen. Peter Scholl-Latour hingegen wird einfach als senil hingestellt, schließlich ist er schon 90 Jahre alt. Und je älter man wird, umso nachsichtiger wird man gegenüber Russland, siehe die beiden Helmuts. Und dann gibt es noch die zahllosen jungen, nicht-prominenten Journalisten, die sich auch gut auskennen, aber keinen Namen haben. Die können froh sein, dass es das heutzutage Internet gibt.
Fazit: Eine Meinung haben darf jeder. Sogar über Russland. Man kann seine Meinung über das Internet relativ einfach anderen zugänglich machen. Um aber tatsächlich gehört und nicht abgestraft zu werden, muss man reich und mächtig sein. Oder einfach 90 Jahre alt.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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