Nowosibirsk hat zu Beginn der 1930er-Jahre höchstens 200 000 Einwohner, es gibt weitaus mehr Holzhütten als Steinhäuser. Für den jungen deutschen Architekten wird die Stadt zum künftigen Einsatzort.
Press PhotoDabei beginnt alles so scheinbar harmlos: Rudolf Wolters stammt aus Coesfeld, wächst in behüteten Verhältnissen auf und geht 1923 zum Architekturstudium nach München. Ein Jahr später wechselt er mit mehreren Kommilitonen an die Technische Universität Berlin. Dort lernen sie gemeinsam bei Heinrich Tessenow, einem der Hauptvertreter der sogenannten Reform- oder Heimatschutzarchitektur. Nach seinem Abschluss 1927 arbeitet Wolters zunächst weiter bei seinem Doktorvater Tessenow und promoviert 1929 zum Thema „Vom Grundriss der Empfangsgebäude großer Fernbahnhöfe“. Aber die Auftragslage in der Weimarer Republik – mitten in der Weltwirtschaftskrise – ist schlecht, besonders für junge Architekten.
Rudolf Wolters. Archivbild.
Not macht erfinderisch und so unterschreibt Wolters – einerseits aus Mangel an Alternativen, andererseits aus Neugier – einen Arbeitsvertrag bei der Berliner Vertretung des Volkskommissariats (Narkom) für Eisenbahnverkehr der Sowjetunion. Künftiger Einsatzort wird das sich gerade in einer rasanten Industrialisierung befindende Nowosibirsk sein. 1932 geht es für den Jungarchitekten auf die weite Reise – überzeugt, dort am Projekt für den neuen Hauptbahnhof mitzuwirken.
Der junge Wolters wird seine Erfahrungen aus Sibirien direkt nach seiner Rückkehr in einem Buch niederschreiben: „Ein Spezialist in Sibirien”. Viele Details seiner Reise, Arbeit und Eindrücke sind darin überliefert - in wahrlich jugendlich-naivem Tonfall.
Wolters reist mit dem Zug. Beim Zwischenstopp in Moskau muss er bürokratische und organisatorische Aufgaben erledigen und trifft erstmals mit realen Menschen der Sowjetunion zusammen. Sie wirken auf ihn “Grau in Grau”, obwohl Sommer ist. Er stolpert durch die Straßen, der stalinistische Klassizismus ist offensichtlich nicht sein Fall. Dann reist er weiter nach Sibirien.
Arbatplatz in Moskau in den 30ern. Foto: Anatoliy Garanin/RIA Novosti
Nowosibirsk hat zu Beginn der 1930er-Jahre höchstens 200 000 Einwohner, es gibt weitaus mehr Holzhütten als Steinhäuser. Die meisten Straßen, außer dem bis heute zentralen Roten Prospekt, sind nicht mehr als ausgefahrene Feldwege. Aber die Stadt liegt zwischen dem Kohlebecken Kusbass und dem Metallverarbeitungszentrum Ural. Dank der bereits fertiggestellten Transsibirischen Eisenbahn und ihren Abzweigen mausert sich Nowosibirsk zur sibirischen „Hauptstadt“, bis heute trägt es gar den Beinamen „Moskau Sibiriens“. Und der Architekt Wolters ist trotz Insekten im Wohnraum, zunehmender Lebensmittelknappheit und fragwürdiger Arbeitsmoral seiner Kollegen doch begeistert von der herrschenden Umbruchsstimmung: er nennt die Stadt auch „Sib-Chicago“.
Wolters bleibt ein Jahr in Nowosibirsk, geht auf große Mittelasienreise ans Kaspische Meer und nach Turkmenistan. Nach und nach realisiert er mehrere Wohnprojekte für Arbeiter. Am Ende kehrt Wolters gern nach Deutschland zurück – allerdings in ein Deutschland, das just im Jahr seiner Rückkehr 1933 mit der Machtergreifung Adolf Hitlers in eine riesige historische Katastrophe schlittert.
Albert Speer (r.) nimmt 1943 aus der Hand Adolf Hitlers den Fritz-Todt-Ring des Reichsrats der Deutschen Technik entgegen. Foto: UllsteinBild/Vostock-Photo
Ein ehemaliger Kommilitone Wolters aus München, Albert Speer, hat mittlerweile in Berlin Karriere gemacht, wird zu Hitlers persönlichem Traumarchitekten und später zum Rüstungsminister. Speer nimmt seinen Freund Wolters in sein Team auf. Wolters wird sowohl die durch den Zweiten Weltkrieg niemals realisierte Reichshauptstadt „Germania“ mitprojektieren als auch Speers Diensttagebuch und Autobiografie verfassen. Während Speer eine 20-jährige Haftstrafe für seine Verstrickung ins Nazi-Regime absitzt, veröffentlichen sie beide zusammen neue Dokumente über den Arbeitsalltag und präsentierten sich als unpolitische Ingenieure, deren Arbeiten das Regime ausnutzte – eine umstrittene Version.
Wolters ist ab 1943 Leiter des „Arbeitsstabs für den Wiederaufbau der bombenzerstörten Städte“ des Dritten Reiches, wovon er nach Kriegsende – nicht inhaftiert und in seine Heimatstadt Coesfeld zurückgekehrt – profitiert. Die Stadtverwaltung zieht ihn sofort zu den Aufbauarbeiten heran, seine Nachkriegsbauten sind bis heute in Nordrhein-Westfalen zu finden.Die Industriekreditbank in Düsseldorf, projektiert von Rudolf Wolters. Foto: Wehwalt / wikimedia.org
Wolters Erinnerungen an die Sowjetunion wurden 2015 in einer von Jörn Düwel kommentierten Neuauflage als „Neue Städte für Stalin. Ein deutscher Architekt in der Sowjetunion 1932 - 1933“ bei DOM Publisher Berlin herausgegeben. In russischer Übersetzung und mit Zeichnungen seines Gefährten Heinrich Lauter erschienen Wolters originale Sibirien-Erinnerungen 2014 im kleinen Nowosibirsker Verlag Swinin und Söhne.
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