Wenn ein russisch-orthodoxer Priester in einer Kirche auf den Kommandanteninseln in der Bering-See um acht Uhr mit der Morgenmesse beginnt, ist in der Hauptstadt der Vortag noch nicht einmal vorbei. Keine Religion ist in Russland weiter verbreitet als die Russisch-Orthodoxe Kirche. Nahezu jedes noch so kleine Dörfchen hat eine eigene kleine Kirche oder Kapelle.
Kein Wunder also, dass sich laut kircheneigenen Statistiken rund 75 Prozent der Russen als russisch-orthodox ansehen.
Bis ins späte 10. Jahrhundert waren die verschiedenen slawischen Stämme auf dem Gebiet der Alten Rus vorrangig Heiden mit verschiedenen sozialen Strukturen und unterschiedlichen lokalen Göttern. Wollte ein Stamm einen Kampf gewinnen, brachte er Perun ein Opfer, dem Gott des Donners und des Krieges. Hoffte man auf eine reichliche Ernte, so betete man zu Mokosch, der Mutter allen Lebens.
Wahrscheinlich wären die einfachen Stämme auch niemals auf die Idee gekommen, ihre Religion zu wechseln, wären sie nicht stark von den überregionalen Eliten beeinflusst worden. So wurde die Großfürstin Olga (920 – 969), die erste Herrscherin über die Rus, in Byzanz orthodox getauft. Ihr Enkel Fürst Wladimir (960 – 1015) taufte dann sein ganzes Land orthodox.
Viele Historiker meinen, Fürst Wladimir selbst habe nicht viel auf Religion gegeben. Vielmehr habe er mit der Christianisierung der Rus das Land einen und ihm eine gemeinsame Regierung durch Staat und Kirche geben wollen. Zunächst versuchte er es noch mit dem Kult um Perun, seinen persönlichen Lieblingsgott. Das aber reichte nicht für einen echten Halt zwischen den einzelnen Stämmen. Dafür brauchte es dann eine bessere Variante und eine machtvolle Allianz im Ausland.
Eine alte russische Chronik besagt, dass Wladimir zur Wahl der richtigen neuen Religion für sein Land extra Priester unterschiedlicher Religionen zu sich holte: der Byzantinischen Orthodoxie, der Katholiken aus dem Heiligen Römischen Reich, einen Muslim aus Wolga-Bulgarien und einen Rabbi. Diese bat er dann: „Gut, und nun erzählt mir von eurem Glauben und beeindruckt mich!“
Am Islam gefiel dem Herrscher, wie die Chronik besagt, dessen Alkoholverbot nicht. Geschockt soll Wladimir reagiert haben: „Aber das Trinken ist doch die Freude der Rus! Wir können ohne nicht leben!“. Daraufhin schickte er den Muslim fort.
Auch der Rabbi beeindruckte Wladimir nicht besonders: “Gut, wenn das Judentum doch so großartig ist, wo ist dann Euer Land?“ Der verwirrte Rabbi antwortete, das Heilige Land der Juden sei besetzt worden. Und Wladimir darauf: „Wenn Ihr schon euer eigenes Land verloren habt, wie kann ich mich da auf Eure Religion verlassen?“ So verpasste auch das Judentum die engere Auswahl einer neuen Staatsreligion der Alten Rus.
Auch die Katholiken aus Deutschland ließ der russische Großfürst abblitzen: „Geht dorthin zurück, von wo ihr hergekommen seid. Wie Eure Väter Euren Glauben abgelehnt haben, so werden auch wir ihn ablehnen.“
Allein der byzantinische Priester konnte Wladimir überzeugen: mit der Größe Konstantinopels, den reich dekorierten Kirchen und den regelmäßigen Messen. Und so konvertierte er selbst 988 zum orthodoxen Glauben und ließ gleich auch noch sein ganzes Land taufen. So wenigstens beschreiben die alten Chroniken den Vorgang.
Die Historiker der jüngeren Geschichte beurteilen die Wahl Wladimirs allerdings weitaus pragmatischer: Er habe vielmehr die Beziehungen seines Landes zu den jeweiligen christlichen Staaten stärken wollen und Byzanz war ein wichtiger Handelspartner der Rus.
In der damaligen Hauptstadt der Rus, in Kiew, ließ er sämtliche Statuen der alten heidnischen Götter abreißen und die Reste in den Wolchow-Fluss werfen. Die Menschen weinten und heulten, aber es half doch alles nichts. Wladimir sandte seine Soldaten in die Provinzen seines Landes aus, um die Bevölkerung taufen zu lassen. Nicht ohne Widerstand natürlich: Sein Ritter Dobrynja beispielsweise „musste“ erst mehrere Gebäude der stolzen Stadt Nowgorod niederbrennen, bis sich die Bürger mit der Taufe einverstanden erklärten.
Und so begann für fast 1000 Jahre die Zusammenarbeit der russischen Herrscher mit der orthodoxen Kirche. Erst als die Bolschewiki 1917 durch die Revolution die Macht ergriffen und Russland in einen sowjetischen Atheisten-Staat verwandeln wollten, sie Religionen verboten und den Klerus weitgehend zerstörten, wurde dieses Prinzip aufgebrochen. Aber später, nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tod Josef Stalins, wurde diese antireligiöse Politik zwar schwächer, der Kirchgang und das Beten jedoch blieb weiter verpönt in der sowjetischen Gesellschaft.
Seit dem Zerfall der UdSSR nun ist die Russisch-Orthodoxe Kirche jedoch wieder erstarkt. Sowohl Soziologen als auch Theologen betonen jedoch, dass die meisten Menschen sich zwar als orthodox positionieren würden, jedoch keineswegs regelmäßig in die Kirche gehen. Die Religion sei für sie vielmehr ein Symbol, eine Tradition.
Auch der Chef der „Orthodoxen Enzyklopädie“ Russlands sagt: „Der Glaube ist nicht bestimmend in unserem Leben oder dem alltäglichen Verhalten.“ Vielleicht wäre Fürst Wladimir nun enttäuscht. Aber vielleicht auch nicht.
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