Im Jahr 1862, während des Bürgerkrieges in Amerika, brachte der amerikanische Gesandte, Eduard de Stöckl, in Washington seine Unzufriedenheit über den russischen Offizier Iwan Turtschaninow (John Basil Turchin), der in der Unionsarmee diente, zum Ausdruck.
„Diese Armee besteht aus Revolutionären und Abenteurern aus aller Welt“, schrieb (eng) Stöckl an Sankt Petersburg.
Obwohl das Russische Zarenreich den Norden Amerikas unterstützte, glaubte Stöckl, dass es eine Schande sei, als einstiger Offizier der russischen Zarenarmee an Amerikas internen Kämpfen und Querelen beteiligt zu sein. Turtschaninow kümmerte die Meinung der russischen Funktionäre jedoch wenig; er beschloss, Russland für immer den Rücken zu kehren.
Iwan Turtschaninow wurde im Jahr 1822 in der südrussischen Don-Region geboren und trat zunächst in die Fußstapfen seines Vaters. Im Jahr 1841 absolvierte er die kaiserliche Militärschule in Sankt Petersburg und nahm im Jahr 1848 an der Niederschlagung der Ungarischen Revolution teil, um anschließend von 1853 bis 1856 im Krimkrieg zu kämpfen.
„Am Ende des Krimkrieges war Turtschaninow ein Oberst, der ein wohlhabendes Leben und eine herausragende Karriere vor sich hatte“, schrieb (rus) der Journalist Dawid Saslawski. „Doch das lehnte er ab.“
Im Jahr 1856 verließ Turtschaninow mit seiner Frau Nadeschda sein Heimatland und wanderte in die Vereinigten Staaten aus und kaufte nach der Ankunft eine kleine Farm in der Nähe von New York City. Die Motivation für die Emigration hatte vor allem ideologische Gründe: Beide wollten als glühende Republikaner in einem freien Land leben, in dem das Schicksal vom Menschen selbst entschieden werden konnte. Die Vereinigten Staaten waren dabei in den 1850er Jahren das einzige prominente Land, das eine republikanische Regierungsform besaß, da die europäischen Länder durchweg von Monarchen regiert wurden.
In der Neuen Welt änderte er seinen Namen in John Basil Turchin. Das neue Leben in Amerika erwies sich für das Paar jedoch zunächst als schwierig.
„Amerika half mir, meine aristokratischen Vorurteile loszuwerden und als gewöhnlicher Sterblicher wiedergeboren zu werden. Ich fürchte keine Arbeit, kein Geschäftsbereich macht mir Angst und keine soziale Stellung kann mich mehr erniedrigen“, schrieb Turtschaninow an den berühmten russischen Emigranten Alexander Herzen, der zu der Zeit in London lebte.
In der Tat musste er seinen Beruf viele Male wechseln – er war unter anderem Bauer, Arbeiter und Ingenieur. Turtschaninows Farm in New York war jedoch nicht sonderlich profitabel, also ließ sich das Ehepaar in Chicago nieder, wo er als Ingenieur arbeitete und Berichten zufolge den zukünftigen amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln traf, der ihm später zur Hilfe kommen würde.
Chicago in den 1860er Jahren
Public domainTurtschaninow zeigte sich vom Leben in Amerika jedoch nicht unbedingt begeistert. Im gleichen Brief klagt (rus) er: „Ich bin so enttäuscht; ich sehe hier nicht mal einen Bruchteil echter Freiheit... diese Republik ist ein Paradies für die Reichen; sie sind diejenigen, die hier wirklich unabhängig sind und ihre bösen Verbrechen mit Geld lösen.“
Der idealistische Offizier musste sich der harten Realität und den Lastern des amerikanischen Kapitalismus stellen.
Während Turtschaninow Amerika ausführlich kritisierte, zögerte er zu Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 1861 nicht, der Unionsarmee beizutreten. Dank seiner Militärerfahrung wurde er zum Oberst ernannt und führte das 19. Freiwilligen-Infanterie-Regiment in Illinois an, das gegen die Konföderation in Tennessee und Alabama kämpfte.
In der Zeit geriet Turtschaninow oftmals mit seinem Kommandeur, General Don Carlos Buell, in Konflikt und handelte manchmal sogar ohne seine Erlaubnis. So halfen er und sein Regiment beispielsweise dabei, die US-Stadt Huntsville in Alabama einzunehmen, indem sie die Eisenbahnschienen der Konföderation abrissen. Die Aktion war ein großer taktischer Erfolg und brachte Turtschaninow den Respekt der ihm unterstellten Soldaten ein. Ein anderes Mal geriet er jedoch in große Schwierigkeiten.
Am 2. Mai 1862 eroberte das 19. Regiment die Stadt Athens in Alabama. Zu dieser Zeit zeigte sich die Armee über die Pattsituation auf dem Schlachtfeld frustriert, da die konföderierten Guerillakämpfer die Unionssoldaten oft mithilfe von Einheimischen im Süden bekämpften. Der russische Oberst beschloss daraufhin, den Rebellen eine Lektion zu erteilen.
„Turtschaninow versammelte das Regiment um sich und sagte ihnen kurz, bevor sie die Stadt verließen: Ich werde nun meine Augen für zwei Stunden schließen und nichts sehen“, schreibt (eng) der Internetblog „Russian Culture“ über den Vorfall, der später als die „Plünderung von Athens“ bekannt wurde und bei dem es darum ging, lokale Handelsbezirke zu plündern. Dabei stahlen die Unionssoldaten alles, was sie finden konnten und hinterließen einen geschätzten Schaden von mindestens 55 000 US-Dollar (etwa 49 000 Euro).
Nachdem der Vorfall öffentlich bekannt wurde, wurde Turtschaninow entlassen und vor ein Kriegsgericht gestellt. Dennoch unterstützten ihn viele; die „Chicago Tribune“ bezeichnete (eng) ihn sogar als „Opfer der boshaften Befürworter der Sklaverei“.
Der Amerikanische Bürgerkrieg
Public domainIn seiner Rede vor Gericht betonte (eng) Turtschaninow, dass die Unionsarmee gegen jene Sklavenhändler vorging, die „nicht mit Samthandschuhen behandelt werden dürften“.
Indessen reiste Turtschaninows Frau nach Washington, D.C., um den Fall ihres Mannes direkt an Lincoln heranzutragen, der Turtschaninow nicht nur wieder in die Armee aufnahm, sondern ihn auch zum Brigadegeneral beförderte. Schließlich brauchte die Union aktive und intelligente Offiziere.
Turtschaninow setzte seinen Dienst fort und kämpfte in der Schlacht am Chickamauga und Chattanooga. „Er war einer der am besten ausgebildeten und sachkundigsten Soldaten der Vereinigten Staaten“, berichteten (eng) seine Mitstreiter über ihn.
Im Jahr 1864 musste er nach einem Schlaganfall die Armee schließlich verlassen. Nach dem Krieg lebte er in schwierigen Verhältnissen und musste immer wieder seinen Beruf wechseln. Im Jahr 1901 starb Iwan Turtschaninow verarmt im Alter von 79 Jahren.
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