Foto: RIA Novosti
Einer der Arbeitsschwerpunkte der russischen Staatsduma in diesem Frühjahr ist die Vorbereitung des Gesetzentwurfs „Über das Ehrenamt“. Das Engagement der in den vergangenen Jahren stärker gewordenen Freiwilligenbewegung ist bislang noch nicht gesetzlich geregelt. Während die Abgeordneten versuchen, auf einen Nenner zu kommen, sind die Freiwilligen Tag für Tag mit vielfältigen Problemen konfrontiert.
Hilfe für Kinder
Bei der Arbeit an dem Gesetzentwurf „Über das Ehrenamt“ zog die russische Regierung bereits vor einem Jahr zahlreiche Vertreter gemeinnütziger Organisationen hinzu, die auf eine langjährige Erfahrung in diesem Bereich zurückblicken können. Anfang April erließ die Regierung der Stadt Moskau zudem eine Anordnung, die neue Regelungen für die Freiwilligenarbeit vorsieht. Dieses Dokument verpflichtet die Leiter von Waisenhäusern erstmals zu einer Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen.
Trotz dieser Vorstöße stoßen ehrenamtliche Organisationen bei ihrer täglichen Arbeit bis heute auf eine Vielzahl von Problemen. Primär beklagen sie die nach wie vor sehr geringe Anzahl an Freiwilligen. Heute gibt es in Moskau sieben Internate für Kinder mit mentalen Entwicklungsstörungen. Diese Einrichtungen beherbergen die bedürftigste Gruppe im russischen Waisensystem. Kinder, die unter Entwicklungsstörungen leiden, brauchen sehr dringend Helfer und Freunde. Allerdings kommen momentan auf eine Gruppe von 20 Kindern durchschnittlich nur drei Pflegerinnen. Die Kinder erhalten dadurch keinen individuellen Kontakt zu einem Erwachsenen und leiden unter fehlenden Anstößen für ihre geistige Entwicklung. „Es ist wichtig, dass das Kind eine Bezugsperson hat, der es sich verbunden fühlt. Das fördert die Entwicklung“, sagt Nadjeschda Syrkina, die Koordinatorin der wohltätigen Stiftung „Ja jest“. Sie ist überzeugt: „Freiwillige Helfer können hierbei wertvolle Hilfe leisten.“
Für eine individuelle Betreuung und Förderung bedarf es jedoch qualifizierter Helfer. Der Leiter des Verbands von Freiwilligenorganisationen Wladimir Chromow stellt fest, dass von 100 Interessenten am Ende eines Monats nur noch 15 bis 20 Personen übrigbleiben. Die ersten Monate des ehrenamtlichen Engagements seien deshalb besonders wichtig. „In dieser Zeit entscheiden sich die Meisten, ob sie die Freiwilligenarbeit fortsetzen wollen oder nicht“, sagt Chromow. Daher würden den Freiwilligen Weiterbildungen erst dann angeboten, wenn sie bereits einige Monate in einer Einrichtung arbeiten. In speziellen Kursen lernen sie, was bei der Pflege von Kindern mit Entwicklungsstörungen zu beachten ist.
Geteilte Verantwortung
Die Probleme der Kinderheime sind allerdings nicht nur auf die Rekrutierung und Schulung von Freiwilligen beschränkt. In einem Waisenhaus liegt die Verantwortung für die untergebrachten Kinder allein bei dem Leiter der Einrichtung. Aus diesem Grund dürfen die Kinder selbst in Begleitung eines freiwilligen Helfers das Internatsgelände nicht verlassen. Dies raubt den Kindern jedoch ein wichtiges Element ihrer Sozialisation. Experten sehen in einem Konzept der gemeinsamen Vormundschaft eine Lösung dieses Problems. Konkret würde dies bedeuten, dass eine Teilung der Verantwortung für ein Kind zwischen dem Leiter des Waisenhauses, dem Vormund des Kindes und den gemeinnützigen Freiwilligenorganisationen vorgenommen wird. Der Leiter des Zentrums zur Förderung der familiären Erziehung „Nasch dom“ Wadim Menschow geht sogar noch weiter: Er plädiert dafür, das Ausgangsrecht eines in einem Waisenhaus lebenden Kindes gesetzlich zu regeln. Dadurch sollen die Waisenkinder, genauso wie ihre Altersgenossen aus gewöhnlichen Familien, Besuche machen oder ins Kino gehen dürfen.
Die Schauspielerin und Mitgründerin der Stiftung zur Förderung von Kindern mit Entwicklungsstörungen Xenia Alferowa möchte die herkömmlichen Kinderheime in Zentren mit familienähnlichen Strukturen, also einzelnen Gruppen von sechs bis sieben Kindern, verwandeln. „Die Gruppen sollten gemischt sein, Kinder unterschiedlichen Alters zusammenführen und auf Dauer angelegt sein“, sagt die Schauspielerin. „Die Kinder sollen sich dort wie zu Hause fühlen, gemeinsam mit ihren Brüdern und Schwestern zur Schule gehen und nach der Schule wieder nach Hause kommen. Der einzige Unterschied wäre, dass sie statt einer biologischen eine Pflegemutter haben. Aber auch zu dieser können sie eine enge Beziehung aufbauen, was für die kindliche Psyche ausgesprochen wichtig ist.“
Rentner als Freiwillige
In Russland gilt die freiwillige Arbeit – aus unerklärlichen Gründen – vordergründig als Tätigkeit für junge Menschen. Im Unterschied dazu arbeitet im Ausland über ein Drittel der älteren Generation ehrenamtlich. Dies ist ein weiteres Problem des russischen Ehrenamts. Zwar hat die Freiwilligenbewegung in Russland durchaus eine Tradition, jedoch haben Rentner dabei praktisch nie eine Rolle gespielt. Unter den Älteren ist die ehrenamtliche Bewegung hauptsächlich in dem Petersburger Schulungszentrum Serebrjannyj wosrast verankert. Absolventen dieses Zentrums sind heutzutage auf praktisch allen einschlägigen Veranstaltungen in Sankt Petersburg vertreten. „Ich denke, eine Generation aktiver und engagierter Rentner wird es bei uns erst in etwa zwanzig Jahren geben“, meint Wladimir Chromow.
Fast alle Experten sind sich darin einig, dass die ehrenamtliche Tätigkeit in Russland in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen wird. „Jedes Jahr kommen mehr Menschen zu uns“, sagt Juri Belanowski von der ehrenamtlichen Bewegung „Danilowzy“. „Viele wissen schlicht nicht, an wen man sich wenden muss und wie man konkret helfen kann. Wenn die Medien und sozialen Netzwerke unsere Anliegen aktiv aufgreifen, wird auch die Zahl der Freiwilligen steigen.“
Nach Materialien des Kommersant.
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