Das traditionelle Familienbild in Russland befindet sich im Wandel. Foto: ITAR-TASS
Anfang Juli hat die russische Regierung das „Konzept der staatlichen Familienpolitik bis 2025" vorgestellt. Die Krise der russischen Familie habe sich am Ende der 1990er- und zu Beginn der 2000er-Jahre in Kinderlosigkeit, geringer Stabilität der Ehen und familiären Bindungen geäußert, heißt es im Dokument. Die neue Familienpolitik der russischen Regierung wolle dies ändern.
Auf den ersten Blick deckt sich die Vorstellung der russischen Politiker von Rolle und Bedeutung der Familie mit der Vorstellung der Bürger. Das Konzept beschreibt die traditionellen Werte der Familie, wie der Staat sie versteht: Die Ehe wird von einem Paar „mit dem Ziel, gemeinsam Kinder großzuziehen", geschlossen und basiert auf „der gegenseitigen Fürsorge und Achtung der Eheleute sowie Fürsorge und Achtung gegenüber ihren Eltern und Kindern".
Eine Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungsinstituts im März 2012 hat gezeigt, dass es das höchste Lebensziel der Russen ist, eine glückliche Familie aufzubauen und tüchtige Kinder großzuziehen. 93 Prozent der Befragten haben sich diese Aufgabe gestellt. Eine Studie des unabhängigen Forschungsunternehmens Zirkon vom Juli und August 2013 hat ebenfalls gezeigt, dass für fast die Hälfte aller Russen (43 Prozent) zu einer idealen Familie unbedingt eine offizielle, für das ganze Leben geschlossene Ehe sowie eine vollständige Familie mit Vater, Mutter und Kind gehört, die von Liebe und gegenseitigem Verständnis sowie Respekt gegenüber den Alten geprägt ist. Die Realität jedoch ist sehr weit von diesem Ideal entfernt. Nur elf Prozent der Befragten waren zum Zeitpunkt der Umfrage der Meinung, dass ihre Familie diesen Angaben entspricht.
Neue Werte
Nur den Worten nach entspricht die Familienpolitik der russischen Regierung also der ihrer Bürger, doch das Verhalten der Bevölkerung spricht eine andere Sprache, da ist sich Leonti Bysow, Soziologe und Leiter der Analyseabteilung des Allrussischen Meinungsforschungsinstituts, sicher. Er sagt: „In der Realität tun die Russen genau das, was sie angeblich so sehr ablehnen: Sie lassen sich scheiden, betrügen ihren Ehepartner oder sind homosexuell."
Seit Beginn der 1990er-Jahre, als in Russland eine sexuelle und feministische Revolution einsetzte, hätten sich die familiären Werte der russischen Jugendlichen stark verändert, erklärt Tatjana Gurko, Leiterin der
Abteilung für Familiensoziologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften, in einem Interview mit dem Nachrichtenportal „Gazeta.ru". In den USA und Europa hätten diese Prozesse bereits 30 Jahre früher stattgefunden, in den 1960er-Jahren. „Die familiären Werte der Jugendlichen beinhalteten im letzten Jahrzehnt nicht unbedingt eine lebenslange Ehe. Die junge Generation, darunter auch junge Eltern, verurteilen die wiederholte Heirat nach einer Scheidung, außereheliche Kinder und das Zusammenleben unverheirateter Paare und sogar das Fremdgehen nicht", so Gurko. Ihrer Ansicht nach ist der moderne russische Jugendliche nicht der Meinung, „jede Frau müsse auch Mutter werden", und begrüßt auch die Gleichberechtigung in einer Partnerschaft.
Familien in Kleinstädten und Großstädten
Im Unterschied zu Europa, wo es wenige Ehen und viele Scheidungen gibt, und islamischen Ländern, wo viele Ehen geschlossen und nur wenige wieder geschieden werden, gibt es in Russland viele Ehen, viele Scheidungen und erneute Eheschließungen nach einer Scheidung. Doch in
den vergangenen Jahren sei die Anzahl der Russen, die früh heiraten, also im Alter von 18 bis 24 Jahren, um die Hälfte gesunken, erklärte Tatjana Gurko gegenüber „Gazeta.ru". 1980 hätten noch 62 Prozent der jungen Männer und 68 Prozent der jungen Frauen in Russland so früh geheiratet, 2011 seien es nur noch 29 Prozent der jungen Männer und 44 Prozent der jungen Frauen gewesen. Heutzutage werden Gurko zufolge die meisten Ehen im Alter zwischen 25 bis 34 Jahren geschlossen.
Die Soziologin merkt an, dass der Wertewandel meist bei Bewohnern großer russischer Städte stattgefunden habe, wo junge Leute zwar oft heiraten, aber keine Kinder zur Welt bringen. In Regionen Russlands, in denen die Bevölkerungsdichte in den Städten gering ist, und bei der Bevölkerungsgruppe mit niedrigem Lebensstandard sei es noch immer beliebt, früh zu heiraten und bereits in jungem Alter Kinder zu bekommen. Auch die außerehelichen Geburten in Russland sind von Region und Ethnie abhängig. Die meisten außerehelichen Kinder gibt es der Volkszählung von 2010 nach in den abgelegenen Regionen Sibiriens und hinter dem Ural, wo viele Vertreter der kleinen Völkerschaften Russlands leben. In der Republik Tywa zum Beispiel liegt der Anteil der außerehelichen Kinder bei 68 Prozent, im autonomen Gebiet Korjakski bei 65 Prozent.
Die infantile Generation
Laut Gurko verhält sich die junge Generation in den großen Städten ohnehin oft noch kindlich und junge Menschen wohnen häufig sehr lange, sogar noch nach ihrem Hochschulabschluss, bei ihren Eltern. „Das führt dazu, dass sie kein Verantwortungsgefühl für einen Partner oder eigene
Kinder mehr entwickeln. Familien in russischen Großstädten nehmen oft private Dienste für die Versorgung der Kinder und alten Menschen sowie für die Hausarbeit in Anspruch", meint die Expertin.
Leonti Bysow vom Allrussischen Meinungsforschungsinstitut fügt hinzu, dass man in Russland heutzutage eine zerrissene, „atomisierte Gesellschaft" beobachten könne, in der die meisten Menschen wenige soziale Bindungen haben. „Der Kreis der nahestehenden Menschen ist reduziert auf die Eltern und Kinder. Tanten, Onkel, Großeltern und Urgroßeltern gehören oft nicht mehr dazu. Die tatsächlich gelebten Werte der Russen unterscheiden sich von der Wunschvorstellung", sagt der Experte und fasst zusammen: „An die Stelle der familiären Werte sind Werte wie Selbstverwirklichung, Erfolg, die Karriere und der eigene Wohlstand getreten."
Statistik
Jahr | 2006 | 2013 |
Anzahl der Scheidungen je 1000 Ehen | 576 |
545 |
Anzahl der außerehelichen Geburten | 29% | 23% |
Anzahl der Abtreibungen pro Jahr | 1,48 Mio. |
881 370 |
Statistik des russischen Ministeriums für Arbeit und Soziales.
Im Artikel wurde Material von „Gazeta.ru“ genutzt.
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