Freiwillige geben Heimkindern eine Familie

Familiäre Strukturen sollen Heimkindern bei ihrer Entwicklung helfen. Foto: Vladimir Pesnya/Ria-Novosti

Familiäre Strukturen sollen Heimkindern bei ihrer Entwicklung helfen. Foto: Vladimir Pesnya/Ria-Novosti

Russische Heimkinder haben oft keine guten Perspektiven. Weil ihnen in der Kindheit erwachsene Bezugspersonen fehlen, fällt es ihnen später schwer, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Freiwilligenorganisationen bieten den Heimkindern deshalb einen Familienersatz.

Jedes Jahr wird in Russland etwa 60 000 Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise entzogen. Über 650 000 Kinder sind nach Angaben des russischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft derzeit fremduntergebracht. Die Heimunterbringung habe Auswirkungen auf die Anpassungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen, sagen russische Experten. Jekaterina Dowgan, Psychologin im Moskauer Kinderheim Nr. 12, berichtet, den Heimkindern fehlten vertikale Beziehungen zu Erwachsenen. Ihre Welt sei von horizontalen Beziehungen zu Gleichaltrigen geprägt, die den gleichen Erfahrungshintergrund wie sie hätten. Das schaffe Vertrauen. Dabei bauten sie familienähnliche Strukturen auf: „Kinder verteilen innerhalb einer Gruppe soziale Rollen und nennen sich jeweils entsprechend Mutter, Vater, Kind“, sagt die Psychologin. „Sie haben enge Beziehungen zueinander, die selbst dann bestehen bleiben, wenn die Kinder das Heim verlassen haben.“ Manchmal ziehen die Heimkinder später zusammen, laut Statistik jedes zehnte.  

Den ehemaligen Heimkindern gelingt es indes nur selten, als Erwachsene reale Familien zu gründen und zu erhalten. Im Auftrag des Moskauer Departements für Familien- und Jugendpolitik hat die Moskauer Stadtuniversität für Psychologie und Pädagogik im Jahr 2010 eine Umfrage unter Kindern und Jugendlichen aus Kinderheimen durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass ein Viertel der Heimkinder seit Generationen Sozialwaisen sind. Schon die Eltern der Heimkinder sind der Umfrage zufolge in Heimen aufgewachsen. Darüber hinaus erklärten 40 Prozent der ehemaligen Heimkinder, selbst keine Kinder bekommen zu wollen. Nur jedes fünfzehnte hat Kinder, wovon jedes vierte sich nicht um diese kümmert. In einer Partnerschaft lebt immerhin ein Drittel der Befragten.

Heimkinder brauchen eine Familie

Jelena Alschanskaja, Direktorin der Stiftung „Freiwillige für Heimkinder“, erklärt, dass es keine offizielle Statistik zur Sozialisation von Kindern aus Heimen gebe. Zwar würden ehemalige Heimkinder noch bis zum 21., gelegentlich auch bis zum 23. Lebensjahr, von Mitarbeitern der Sozialämter betreut, darüber hinaus sei jedoch nicht mehr nachvollziehbar, ob sie in der Gesellschaft angekommen seien oder nicht. Alschanskaja geht davon aus, dass viele von ihnen Alkohol- oder Drogenprobleme entwickeln oder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. „Nur das Leben in einer Familie hilft Kindern, sich später in der Gemeinschaft zurechtzufinden“, ist Alschanskaja überzeugt. Gruppenaktivitäten wie Kinobesuche oder gemeinsames Kochen seien ebenso wie Geschenke nur ein unzureichender Ersatz. „Ein Kind braucht von frühester Kindheit an eine erwachsene Bezugsperson, zu der es ein stabiles Verhältnis aufbauen kann“, stellt sie klar. 

In Russland arbeiten daher in den Kinderheimen Freiwillige, die die Rolle der erwachsenen Bezugsperson übernehmen. Alschanskajas Stiftung „Freiwillige für Heimkinder“ qualifiziert dafür Männer und Frauen, die einmal pro Woche mehrere Stunden mit einem Heimkind verbringen. Ähnlich arbeiten die nichtstaatlichen russischen Kinderdörfer. Sie gehen auf eine Idee des österreichischen Pädagogen Hermann Gmeiner zurück, der die sogenannten SOS-Kinderdörfer nach dem Zweiten Weltkrieg gründete. Er wollte verwaisten und verlassenen Kindern ein familienähnliches Zuhause geben. In sechs russischen Regionen existieren heute solche Kinderdörfer. Das erste wurde 1996 im Gebiet Moskau errichtet. Später folgten Kinderdörfer in den Gebieten Murmansk, Orjol, Leningrad und Pskow. Ein typisches russisches Kinderdorf besteht aus zehn bis fünfzehn Wohnhäusern, in denen sechs bis acht Kinder jeweils mit ihren Erziehern wohnen. Sie besuchen allgemeinbildende Schulen und leben wie in einer Familie zusammen.

Nach Angaben des russischen Statistikamtes schrumpft die Zahl von Kinderheimen in  Russland allmählich: 2008 waren es noch 1 147,  2012 gab es 976, 2014 nur noch 650. Experten kritisieren, dass die Zahl nicht rückläufig sei, weil es in Russland weniger Waisen und Sozialwaisen gebe, sondern weil kleinere Einrichtungen geschlossen und die Kinder in großen Heimen untergebracht würden. Die russische Regierung hat sich des Problems angenommen und neue Richtlinien für die Heimerziehung ausgearbeitet, die im September 2015 in Kraft treten sollen. Die Zahl der Kinderheime soll daher weiter reduziert und stattdessen kleinere, familiäre Wohneinheiten geschaffen werden. Russische Waisen und Sozialwaisen sollen zukünftig vermehrt unter familienähnlichen Bedingungen aufwachsen können.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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