Die Russen sehen das Zentralabitur noch immer kritisch. Foto: RIA Novosti
Im Juni beginnen in Russland die Schulferien. Außer für die Schüler der neunten und elften Klassen – auf sie warten die Abschlussprüfungen. Die Schüler der elften Klasse legen das Zentralabitur ab, in Russland das Einheitliche Staatliche Examen genannt. Die 2009 eingeführte Prüfung vereinigt die früheren Abschlussprüfungen der Schule mit den Aufnahmeprüfungen der Hochschulen. Zudem ermöglicht sie den Schülern eine freie Wahl der Hochschule.
Die ersten Versuche, zentrale Abschlussprüfungen einzuführen, wurden 2001 in einer Reihe russischer Regionen umgesetzt, 2004 folgten einige Stadtbezirke Moskaus. Seit 2009 sind diese Prüfungen für das ganze Land obligatorisch. Bislang konnten sie aber nicht die Unterstützung der Öffentlichkeit gewinnen. Nach Angaben der Stiftung für öffentliche Meinung befürworten lediglich 23 Prozent der Bevölkerung diese Form der Abschlussprüfung, 49 Prozent sind dagegen. Die meisten Beschwerden rief der in diesem Jahr ausgesetzte Frageteil der Prüfung hervor. Seinen Wegfall begrüßten 44 Prozent der Befragten.
Insgesamt zeigen Hochschuldozenten und Lehrer größeres Vertrauen in die Prüfung als Schüler und deren Eltern. Nach Angaben des Gesamtrussischen Zentrums für die Erforschung der öffentlichen Meinung sind 60 Prozent aller Lehrer der Meinung, dass die zentrale Prüfung den Zugang zur Hochschule erleichtere, während diesen Standpunkt in der gesamten Bevölkerung lediglich 43 Prozent teilen.
Am meisten wurde die Objektivität der Prüfungen diskutiert. Im alten System mussten Schulabgänger erst ihr Abitur in der Schule ablegen und anschließend eine Aufnahmeprüfung an der gewählten Hochschule bestehen. Wie Natalia Fjodorowa, Lehrerin einer Schule in Südbutowo in Moskau, sagt, sei das Hauptmanko der zentralen Prüfung, dass „sie nicht die Leistungen des Kindes während der gesamten Schulzeit berücksichtigt". Außerdem seien „die Kinder während der Prüfung sehr aufgeregt und liefern daher nicht die gewünschten Ergebnisse".
Die Öffentlichkeit teilt diese Meinung – und offenbar umso mehr, je weiter das frühere System zurückliegt. So gaben im April dieses Jahres 66 Prozent der von der Stiftung für öffentliche Meinung Befragten an, dass das alte Prüfungssystem den Wissensstand der Schulabgänger objektiver bewertet habe. Im September 2009 stimmten dieser Aussage noch elf Prozent weniger zu.
Isak Frumin, ehemaliger Schuldirektor und inzwischen wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Bildung der Higher School of Economics in Moskau, ist ein Anhänger des neuen Prüfungssystems. Das alte System habe das reale Abbild des Leistungsniveaus eines Schulabgängers verzerrt, sagt er, da Schüler bei den Prüfungen von den Lehrern unterstützt worden seien. Die Korruption sei zudem im Zusammenhang mit den Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen wesentlich ausgeprägter gewesen als heute.
Lera Scheweljowa, Schülerin einer elften Klasse im Nordosten Moskaus, möchte dieses Jahr einen Studienplatz an einer der staatlichen medizinischen Hochschulen der Hauptstadt ergattern. Basierend auf den Aufnahmestatistiken der vergangenen Jahre müsste sie 270 Punkte in ihren drei Prüfungen erzielen, also im Durchschnitt 90 von 100 Punkten in Russisch, Biologie und Chemie. Um sich auf diese drei Fächer vorzubereiten, mussten ihre Eltern über das ganze Schuljahr hinweg Nachhilfelehrer hinzuziehen, da ihnen der Lehrplan der Schule keine allzu großen Hoffnungen machte, eine solch hohe Punktzahl zu erreichen. Das Prüfungsergebnis von 70 Punkten im Fach Russisch ließ Lera kurz vor der Chemie- und Biologieprüfung nervös werden.
Frumin glaubt, die zentralen Prüfungen erzeugten großen Stress für die Schüler, da die Anforderungen äußerst anspruchsvoll seien und die Prüfungen nicht so schnell nachgeholt werden könnten. „Internationale Sprachtests kann man viermal im Jahr ablegen, das Zentralabitur nur einmal", erklärt der Experte.
Das Prüfungsverfahren selbst empfindet Lera allerdings überhaupt nicht als stressig, obwohl die Prüfungen nicht in der eigenen Schule, sondern in einer anderen, sozusagen auf neutralem Gebiet, durchgeführt wurden. „Das war absolut nicht schlimm. Wir trafen uns an unserer Schule und gingen mit einem Begleiter zu der Schule, an der die Prüfung abgenommen wurde. Dort mussten wir am Eingang unsere Handys abgeben – wer trotzdem heimlich ein Mobiltelefon in den Prüfungsraum einschleust, wird von der Prüfung ausgeschlossen. Wir absolvierten die Personenkontrolle, meldeten uns an und bekamen unseren Raum zugewiesen, wo wir dann 20 bis 30 Minuten bis zum Prüfungsbeginn warten mussten", erzählt Lera.
„Die größten Probleme mit dem zentralen Prüfungssystem haben vor allem Kinder, die nicht ganz so selbstsicher oder gar emotional instabil sind. Aber müssten sie die Prüfung unter den früheren Bedingungen ablegen, sie hätten wohl genauso Angst", glaubt Vera Grebnjowa, die Schulpsychologin der Schule Nr. 5 im Moskauer Vorort Koroljow.
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