Teilnehmer einer LGBT-Demonstration, die am 1. Mai 2015 in Sankt Petersburg für ihre Rechte eintraten. Foto: Pjotr Kowalew / TASS
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, gleichgeschlechtliche Ehen zu legalisieren, sorgte nicht nur in Amerika für Aufsehen: Weltweit bekundeten Menschen im Internet ihre Einstellungen zur Homo-Ehe. Zum Zeichen der Solidarität mit Homosexuellen tauschten viele Facebook-Nutzer, auch russischsprachige, ihre Profilbilder gegen eine Version mit Regenbogenfarben. Das rief Kritiker auf den Plan, es folgten Diskussionen, Provokationen und Streitereien.
Auseinandersetzungen mit dieser Legalisierung uferten in Russland weit über die Internetgrenzen hinaus aus, das Thema wurde zum Gegenstand politischer Debatten. So forderte etwa der Abgeordnete der Gesetzgebenden Versammlung Sankt Petersburgs Witalij Milonow, der bereits mehrfach durch homophobe Aussagen aufgefallen ist, in einem Radio-Interview, Facebook solle in Russland über die russische Regulierungsbehörde Roskomnadzor gesperrt werden. Das soziale Netzwerk verstoße gegen das Gesetz über das Verbreitungsverbot homosexueller Propaganda unter Minderjährigen. Gemeint ist konkret die Freischaltung der Funktion, die Facebook anbietet, um das Profilbild in Regenbogenfarben erscheinen zu lassen.
Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche verurteilte die Entscheidung der US-amerikanischen Judikative. Wsewolod Tschaplin, Vorsitzender der Abteilung der Synode des Moskauer Patriarchats für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, äußerte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Interfax seine Besorgnis, dass die Vereinigten Staaten ihre „unnatürliche und posthumane Auffassung von der Ehe anderen Ländern aufzuzwingen“ versuche.
Viele weitere Internetnutzer und konservative Publizisten sprachen ihre Kritik aus. Doch ein großer Teil der Internetgemeinde zeigte sich mit der Entscheidung des Obersten Gerichts solidarisch, darunter auch russische Politiker.
Als Reaktion auf die Profilbilder mit Regenbogenfarben tauchten im russischen Netz Profile mit den Farben der russischen Flagge auf.
Kritiker protestieren mit den Hashtags #pridetobestraight und #pridetoberussian gegen das jüngst verabschiedete US-Gesetz und die Homo-Ehe.
Leonid Wolkow, Mitglied der außerparlamentarischen Opposition und Parteifreund des Oppositionellen Alexej Nawalnyj, schrieb auf seiner Facebook-Seite: „Die Liebe ist in all ihren Erscheinungsformen wunderschön, der Hass ist schrecklich – ebenfalls in all seinen Formen.“ Den Pessimismus, dass es in absehbarer Zeit keine Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Russland geben werde, teile er nicht: „In den USA – die um einiges konservativer sind als Russland! – hat der ganze Prozess etwa 20 Jahre gebraucht.“ Mit seinem Profilbild in Regenbogenfarben bezog Wolkow klar Stellung – wie auch eine Reihe anderer gesellschaftlich engagierter Menschen in Russland.
Selbst in Regierungskreisen herrscht Uneinigkeit hinsichtlich der Homo-Ehe. Konstantin Dobrynin, Föderationsratsabgeordneter der Oblast Archangelsk, sagte dem Radiosender Echo Moskwy, in Russland müsse die zugespitzte Aggression gegenüber sexuellen Minderheiten abgebaut werden. Er betonte, ein Kompromiss müsse gefunden und die Interessen aller Bürger Russlands in der Gesetzgebung berücksichtigt werden – wie der LGBTI-Community, so auch der Konservativen.
Nicht alle können die Diskussionen um die Entscheidung des US-Gerichts nachvollziehen. Die Bedeutung dieses Themas werde künstlich aufgeblasen, meint beispielsweise Walerij Solowej vom Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. „Es hätte keinerlei Reaktionen auf dieses Gesetz gegeben, wenn die mediale Aufmerksamkeit nicht so übertrieben groß gewesen wäre, wenn darüber nicht überall berichtet werden würde. Dieses Gesetz steht im Fokus öffentlichen Interesses, weil so viel Lärm darum gemacht wird“, sagte der Politologe in einem Gespräch mit RBTH. Er ist überzeugt, dass abgesehen von einer „kleinen, ‚politisch besorgten‘ Bevölkerungsgruppe, die nicht mehr als fünf bis sieben Prozent beträgt“, diese Entscheidung niemanden wirklich interessiere.
Karina Pipija, Soziologin am Lewada-Zentrum und Autorin des Berichts zum Homophobie-Problem in Russland, erklärte RBTH, dass die heftige gesellschaftliche Reaktion, insbesondere in konservativen Kreisen, durch die russische Regierung befördert worden sei. Denn derzeit befänden sich Russland und die westlichen Länder, darunter die USA, in einem Zustand politischer Konfrontation. „Russische Politiker versuchen, unsere ‚konservativen‘ Werte westlichen Orientierungen, denen sie die Zersetzung traditioneller Moral vorwerfen, entgegenzusetzen. Die Bevölkerung ist für diese Art von Rhetorik anfällig und vor diesem Hintergrund wachsen homophobe Stimmungen“, erläuterte Pipija.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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