Das Drama "Die schwarze Milch oder die Klassenfahrt nach Auschwitz" des österreichischen Autors Holger Schober hat nicht nur das Puschkin-Theater in Krasnojarsk auf die Bühne gebracht, sondern ist auch auf anderen Bühnen in Russland zu sehen, hier beispielsweise im Moskauer Theatrium im Juni.
teatrium.ruVom 28. Oktober bis zum 1. November richtete die sibirische Stadt Krasnojarsk zum neunten Mal ihre Messe für Buchkultur aus. Vorgestellt wurde dort auch „SchAG 11+“, ein Sammelband deutscher Dramatik für Kinder und Jugendliche in russischer Sprache. Entstanden ist er im Rahmen des „Jahres der deutschen Sprache und Literatur in Russland“, das gemeinsam vom Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt ausgerichtet wurde. Zur Messe brachte das Krasnojarsker Dramatische Puschkin-Theater zwei Stücke aus dieser Anthologie auf die Bühne: eine dramatische Bearbeitung von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ durch Robert Koall und „Die schwarze Milch oder die Klassenfahrt nach Auschwitz“ von Holger Schober durch Andrjus Darjala, die besondere Beachtung verdient.
Auf einer kahlen, jeglicher Dekoration entbehrenden Bühne lasen drei Schauspieler aus Schobers Stück. Ein sehr bewegendes Drama breitete sich vor dem Publikum aus.
Darin besucht ein deutscher Jugendlicher mit seiner Schulklasse Auschwitz. Irgendwo habe er von diesem Ort schon einmal gehört, sagt er. Er hätte aber eigentliche eine Sauna erwartet und sogar sein Badezeug mitgenommen. Vielmehr beschäftigen ihn ohnehin die Küsse und Umarmungen einer Klassenkameradin. Dafür seien „solche Fahrten schließlich gedacht“.
Ein polnischer Polizeibeamter, der seinen Dienst in Auschwitz tut, klagt, er habe sich nicht im richtigen Moment hochgeschlafen, um es zum Leiter eines Polizeipräsidiums in Breslau zu bringen. Daher arbeite er nur in Auschwitz. Aber das sei auch nicht übel. „Es ist ok hier, alles in Ordnung“, wiederholt er mehrmals. Seine Tochter sagt über Auschwitz: „Wir sagen nicht Lager, sondern Museum.“
In einer Polizeidienststelle kommt es zur Begegnung zwischen dem Polizisten und dem Jugendlichen. Anfangs begreifen sie nicht, dass sie beide gleich heißen – Tomasz und Thomas – und der Unterschied nur in der Aussprache liegt. Der deutsche Jugendliche Thomas trägt eine Glatze und Springerstiefel und ist für den Polen Tomasz deshalb ein Nazi. Das will der Deutsche nicht auf sich sitzen lassen; die beiden beginnen ein Gespräch. Eine Mischung aus Polnisch, Deutsch und Englisch wird ihre gemeinsame Sprache. Sie trinken gemeinsam ein Bier, fast wie gute Freunde. Der Junge möchte von Tomasz wissen, ob der die Deutschen hasst. Der Polizist erwidert, er könne sich einfach selbst nicht leiden und folglich auch alle anderen nicht.
Foto: Alexandra Gusewa
Einen Grund für den Selbsthass ihres Vaters findet Tomasz’ Tochter Izabela. Sie entdeckt auf dem Dachboden das Tagebuch eines Mädchens mit dem Namen Marika, eines Kriegskindes. „Die Deutschen bauen ein neues großes Lager“, steht darin. „Papa sagt, das Lager ist gut für uns, jetzt werden die Polen Arbeit bekommen.“ Weiter heißt es: „In den Lagern sitzen nur Juden, die sind alle Diebe und Mörder, oder gebildete Polen – die müssen das irgendwie verdient haben.“ Doch dem Mädchen tun die Juden leid.
Sie schwärmt auch für einen deutschen Soldaten aus dem Lager. Eines Tages wirft er einen Stein an ihr Fenster. Marika besucht ihn. Später schreibt sie in ihr Tagebuch, er habe sie vergewaltigt und nun sei sie schwanger. Sie ist zerrissen zwischen Liebe und Hass zu ihrem Kind, das seinem deutschen Vater so ähnlich sieht. Sie kommt damit nicht zurecht und nimmt sich das Leben. Es stellt sich heraus, dass sie Tomasz’ Großmutter war.
Den jungen Thomas wühlt diese Geschichte auf. Der Krieg mit seiner Reihe von Ereignissen und Zahlen über Tote wird auf einmal lebendig. Über Gefühle und menschliche Schicksale hat er im Geschichtsunterricht in der Schule nichts gelernt. Am Ende ihrer Unterhaltung haben Thomas und Tomasz viel Verständnis füreinander entwickelt und sich gegenseitig vergeben. Vergebung, Aussöhnung und Überwindung von Hass sind das zentrale Thema des Stücks.
„Eine Generation hat diese Geschichte durchlebt, eine weitere vergisst sie, aber heute gibt es diese Krankheit, den Hass, wieder in unserer Gesellschaft, und die muss man heilen“, sagt Regisseur Andrjus Darjala, der das Stück auf die Bühne brachte. Er wollte den Wurzeln des Hasses auf den Grund gehen. Für den 40-jährigen Darjala liegt Auschwitz ebenso weit zurück wie für die meisten Akteure des Theaterstücks. „Das historische Gedenken liegt mir allerdings sehr am Herzen, denn es kann alle Auswüchse nationaler Zwietracht im Keim ersticken“, meint er.
Das Stück, das von dem Dramatischen Theater von Krasnojarsk zunächst nur probeweise auf die Bühne gebracht wurde, kam bei den meisten im Publikum sehr gut an. Doch einige Eltern verließen mit ihren Kindern den Saal, weil Sätze fielen wie „Schule ist Scheiße!“. Auch das Thema Vergewaltigung und die massenhafte Tötung von Menschen hielten einige Eltern wohl für zu verstörend für ihre Kinder. Die Krasnojarsker Schauspieler aber sind überzeugt, dass dieses wichtige Stück von russischen Kindern angeschaut werden sollte. Denn die Literatur und das Theater böten die Möglichkeit der Auseinandersetzung auch mit schwierigen Themen. Die Eltern sollten mit ihren Kindern darüber diskutieren, fordern sie. Nun denken die Künstler darüber nach, das Drama in ihr reguläres Repertoire aufzunehmen.
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