Rückflug in den Tod

Anatoly Medved / RG
„Wir fliegen nach Hause“, schrieb Passagierin Olga kurz vor dem Abflug. Doch sie und 223 weitere Personen starben am Samstag beim Absturz ihrer Maschine in Ägypten. Wer waren die Menschen an Bord? Wie geht es ihren Angehörigen? RBTH erzählt ihre Geschichten.

Um 12.20 Uhr Ortszeit sollte ein Flugzeug der russischen Fluggesellschaft Kogalymavia in Pulkowo, Sankt Petersburg, landen. An Bord sieben Besatzungsmitglieder und 217 Passagiere, davon 25 Kinder, die auf der Rückreise aus dem Urlaub in Ägypten waren. In den sozialen Netzwerken hatten einige während ihres Aufenthalts Fotos gepostet: Aufnahmen von exotischen Tieren und dem Meer. Typische Urlaubsschnappschüsse, dazu Kommentare wie „Juhuu. Ab in die Sonne!“ oder „Ich hätte nie gedacht, dass Ägypten mich so faszinieren würde!“

Die Passagiere waren Russen aus 13 verschiedenen Regionen, aber auch Ukrainer und Weißrussen waren an Bord des Airbus 321, der im ägyptischen Badeort Scharm-el-Scheich startete. In Pulkowo sollte er nie ankommen.

Dort hatten sich schon Angehörige versammelt, die ihre Lieben wieder in die Arme schließen wollten. Sie sollten vergeblich warten. Gegen elf Uhr Ortszeit hatten einige der Wartenden bereits vom Absturz einer Passagiermaschine über der ägyptischen Sinai-Halbinsel gehört. Hilflos standen sie am Informationsschalter. Was sollten sie nun tun? Welches Flugzeug war abgestürzt? Waren ihre Angehörigen an Bord? Manch einer blickte weiter hoffnungsvoll auf die Anzeigetafel, wo nur eine Verspätung angezeigt wurde. Andere fingen an zu weinen. Eine halbe Stunde vor der geplanten Landung stand nichts mehr auf der Anzeigetafel. Noch immer versuchten die Wartenden, die Verwandten oder Freunde telefonisch zu erreichen. Bis zuletzt wollten sie nicht glauben, was passiert war. 

„Wichtigster Passagier“

Quelle: Vkontakte.com

Vor dem Abflug nach Ägypten fotografierten die Eltern der neun Monate alten Darina G. das kleine Mädchen vor der Fensterfront des Flughafens. Sie blickt auf das Rollfeld. „Wichtigster Passagier“, schrieb ihre Mutter Tatjana unter das Bild, das sie im Internet einstellte. Darinas Foto ging um die Welt. Es wurde zum Symbol des Todesflugs. Im Internet wurde es über eine Million Mal geteilt. „Niemand von ihnen wusste, dass dieser Eintrag der letzte in ihrem Leben sein würde“ und „Ohne Worte …“, kommentierten die User mitfühlend. 

Quelle: Vkontakte.com

Auch für die fünfköpfige Familie Sch. sollte es der letzte Flug werden. Kurz vor dem Abflug fotografierten sie noch im Flieger. „Hallo Piter, tschüss Ägypten. Wir fliegen nach Hause“, schrieb Olga Sch., die Mutter. Olga, ihr Mann und die drei Kinder, Schenja (11), Walerija (10) und Nastja (3) sollten nie zu Hause ankommen. Die Reise nach Ägypten war die erste Auslandsreise der Familie. Zugleich feierten die Eheleute auf der Reise ihren Hochzeitstag.

Miss Pskow

Olga war eine 30-jährige Frau, die sehr gerne auf Reisen ging. Sie hatte schon viel gesehen. Eines der nächsten Ziele sollte China werden. Einmal erklärte ihre Schwester Swetlana K. ihr die Kunst des Handlesens. Als Olga daraufhin ihre eigenen Hände betrachtete, scherzte sie noch über ihre kurze Lebenslinie. Sie werde wohl früh sterben, sagte sie damals. Wirklich ernst genommen hat sie das jedoch nicht. Olga starb gemeinsam mit ihrem Mann Michail und ihrer zehnjährigen Tochter Kristina.

Die Schönheitskönigin Jekaterina M. aus Pskow. Quelle: Vkontakte.com

„Ich weiß, dass es kein Zurück geben wird“, so lautete der Titel eines Liedes, das die 32-jährige Jekaterina M. vor der Reise im Internet teilte. Die frühere Schönheitskönigin, sie war Miss Pskow, hätte bald Geburtstag gehabt. In den Urlaub nach Ägypten fuhr sie mit ihrer Mutter, die achtjährige Tochter Katja war in Russland geblieben. Das Mädchen wird seine Mutter nie wiedersehen. Eine Freundin von Jekaterina erinnert sich: „Sie sagte noch, dass wir uns nach ihrer Reise wiedersehen, am 1. November. Sie wollte dann allen sagen, wo sie ihren Geburtstag feiert. Stattdessen werde ich nun zu ihrer Beerdigung gehen.“

Vorahnungen?

Auch die sieben toten Besatzungsmitglieder werden von ihren Angehörigen schmerzlich vermisst. „Er war immer auf der Suche nach sich selbst. Die Erde war ihm nicht genug. Er liebte den Himmel und das Fliegen. Das war sein Leben“, sagt Anna, die Frau des Stewards Stanislaw S. Neben seiner Frau hinterlässt er eine kleine Tochter. Anna spricht mit einem Kamerateam. Ihre Stimme zittert: „In den letzten Wochen vor dem Flugzeugunglück war Stanislaw ängstlicher als sonst und irgendwie weicher. Als hätte er seinen baldigen Tod geahnt“, erzählt sie. Er solle sich melden, wenn er ankomme, hatte seine Frau zu ihm gesagt. „Da lachte er noch und sagte zu mir, ich wäre doch selbst Flugbegleiterin. Und wenn etwas passieren würde, würde ich es schon aus den Nachrichten erfahren.“ Dennoch schien ihn das Thema zu beschäftigen. Stanislaw las viel über Flugzeugabstürze, fast so, als wolle er vorbereitet sein. 

Der Steward Stanislaw S. mit seiner Frau Anna. Quelle: Vkontakte.com

Der Steward Oleg J. sollte laut Dienstplan am 31. Oktober in der Unglücksmaschine sein. Zwei Wochen zuvor hatte sein Vater einen Traum von einem Flugzeugunglück, bei dem sein Sohn starb. „Oleg, kündige deinen Job“, drängte sein Vater ihn daraufhin. Nur wenige Tage vor dem verhängnisvollen Tag tat Oleg seinem Vater den Gefallen und reichte seine Kündigung ein. Oleg J. wünscht sich, er hätte seinen Kollegen von dem Traum erzählt.

Am Flughafen von Pulkowo ist es noch immer still. Es ist eine traurige Atmosphäre. Der Schmerz ist greifbar, es ist kaum auszuhalten. Der Platz vor dem Eingang versinkt in einem Blumenmeer. Süßigkeiten und Gebäck, Kuchen, selbstgemalte Bilder, Fotos – all das hinterlegen die Menschen zum Gedenken an die Opfer. In den sozialen Netzwerken ist die Anteilnahme groß. „Die Blumen und auch die Nachrichten auf Facebook, das hilft ein wenig“, schreibt die Schwester der toten Anna T. auf ihrer Facebook-Seite. Sie wählt noch immer Annas Nummer: „Eigentlich ist mir klar, dass das nichts bringt. Dennoch halte ich jedes Mal den Atem an und warte auf das Freizeichen. Doch es heißt nur, dass der Anschluss vorübergehend nicht erreichbar sei. Es ist verrückt, doch ich klammere mich immer noch an diesem ‚vorübergehend‘ fest.“

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