Zar Nikolaus II. mit seiner Frau Alexandra und ihren fünf Kindern Olga, Tatjana, Maria, Anastasia und Alexei.
Ullsteinbild/Vostock-PhotoNoch herrscht keine endgültige Klarheit über die Authentizität der sterblichen Überreste des Zarewitsch Alexei und der Großfürstin Maria – zweier der insgesamt fünf Kinder des Zaren Nikolaus II. und seiner Frau Alexandra. Im September erklärten die Nachfahren des Hauses Romanow allerdings, der Umbettung der beiden Vorfahren in die Sankt Petersburger Peter-und-Paul-Festung zuzustimmen. Unter Vorbehalt: Da die Überreste der Kinder separat von denen anderer Familienmitglieder entdeckt wurden, kamen Zweifel an ihrer Echtheit auf, die nun in weiteren Tests geprüft werden soll.
Das Schicksal des letzten russischen Zaren und seiner Familie bot immer schon einen Nährboden für Verschwörungstheorien. Doch ohne die akribische Arbeit eines Mannes fänden die Mutmaßungen über ihr Überleben wohl kein Ende. Nikolai Sokolow führte kurz nach dem Mord an der Zarenfamilie Untersuchungen durch, auf deren Grundlage die Ermittlungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wiederaufgenommen werden konnten.
Vor der Oktoberrevolution diente Sokolow als Gerichtsermittler in der Oblast Pensa (800 Kilometer südöstlich von Moskau), bis er 1917 das Amt des Obersten Ermittlers am dortigen Bezirksgericht übernahm. Als Verfechter der Monarchie war Sokolow gezwungen, Zentralrussland nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs zu verlassen. Er habe sich krankschreiben lassen und sei vor den Bolschewiki nach Sibirien geflohen, erzählt Wladimir Solowjew vom kriminologischen Departement des russischen Ermittlungskomitees und Chef der Ermittlungen im Fall der Romanows von 1993 bis 2011.
In Sibirien traf Sokolow auf zarentreue Regierungsvertreter und arbeitete zunächst bei der Staatsanwaltschaft in Irkutsk, später in Omsk. Dank diesen Verbindungen kam er gemeinsam mit der promonarchistischen Weißen Armee in die Stadt Jekaterinburg, wo die Bolschewiki acht Monate zuvor Nikolaus II. und seine Familie ermordet hatten.
Russisch-orthodoxe Geistliche aus der Diözese Jekaterinburg schlugen vor, Jewgenij Botkin, den Hausarzt des Zaren, und drei Bedienstete der Zarenfamilie – den Koch Iwan Charitonow, den Lakai Alois Trupp und das Dienstmädchen Anna Demidowa – heiligzusprechen. Sie waren 1918 gemeinsam mit der Zarenfamilie erschossen worden. Erzpriester Alexej Kulberg, enger Berater des Metropoliten von Jekaterinburg und Werchoturje, Kirill, sagte der Nachrichtenagentur Interfax: „Uns liegen keine Informationen darüber vor, dass das Leben dieser vier treu ergebenen Diener sündhaft gewesen wäre oder dass sie im Verlauf ihres Lebens etwas getan hätten, das eines Christen nicht würdig ist.“ Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat Nikolaus II., seine Frau und ihre fünf Kinder bereits im Jahr 2000 heiliggesprochen.
Hinterhältiger Mord
Wie er dazu kam, den Mordfall zu untersuchen, erzählt Sokolow in seinem Buch „Mord an der Zarenfamilie“: „Am 5. Februar hat der Admiral [Admiral Koltschak, Oberbefehlshaber der Weißen Armee – Anm. d. Red.] mich vorgeladen und mir die Ermittlungen anvertraut.“ Dass der ihm anvertraute Fall für die Geschichte ganz Russlands von zentraler Bedeutung gewesen sei, habe er von Anfang an verstanden, schreibt Sokolow. „In unserer täglichen Ermittlungsarbeit suchen wir die Wahrheit, indem wir uns an klaren Fakten orientieren. In diesem Fall sind die Fakten besonders – sie sind historisch.“
Der wichtigste Verdienst Sokolows bestehe darin, die Mutmaßungen, wonach die Familie des Zaren noch am Leben gewesen sei, entkräftet zu haben, so Solowjew. „Er hat nachgewiesen, dass die Zarenfamilie tatsächlich erschossen wurde. Damals existierten die wildesten Theorien über das Schicksal der Romanows. Es tauchten sogar falsche Thronfolger auf“, erklärt Solowjew.
Augenzeugenberichte und Sachbeweise führten Sokolow zu der Erkenntnis, dass die Zarenfamilie von der Tscheka – der Geheimpolizei der Bolschewiki – am 17. Juli ermordet wurde. Sie befürchtete, dass die Koltschak-Truppen die Stadt an diesem Tag zurückerobern und die Zarenfamilie retten würden. Also brachten die Tscheka-Offiziere die Familienmitglieder samt einiger Dienstboten in den Keller des Ipatjew-Hauses, in dem sie seit dem 30. April unter Hausarrest standen. Und erschossen sie.
Die Zeit lief ihnen davon. Sie brachten die Leichen in eine verlassene Mine im Dorf Ganina Jama. Dort stieß Sokolow auf ihre Spuren. „Der Ermittler fand zahlreiche zerkleinerte und verbrannte Knochenreste. Zudem noch einige Dinge des Alltags. Menschen, die dem Zaren nahestanden, erkannten diese wieder“, sagt die Historikerin Ljudmila Lykowa. „Sokolow war überzeugt, dass die Leichen verbrannt wurden. Doch beim Versuch, die Beweise zu vernichten, scheiterten die Bolschewiki und vergruben daher die Überreste.“
Ermitteln und bewahren
Nach einer Serie von Niederlagen war die Weiße Armee gezwungen, sich in den Osten des Landes zurückzuziehen. Dennoch setzte Sokolow seine Ermittlungen fort. Kurz vor der endgültigen Niederlage der Weißen stellte der Inspektor sorgfältig die Ermittlungsakten zusammen und schickte sie nach Frankreich. Er habe die Dokumente in zwei Teilenversendet: Auf einem Kriegsschiff und mit diplomatischer Post, sagt Lykowa. Im März 1920 verließ Sokolow selbst das Land und ging nach Paris.
Die Nachfahren der Romanows in Europa trauten dem Ermittler nicht. Sie waren überzeugt, dass die Zarenfamilie noch lebte. In den letzten Jahren seines Lebens erstellte Sokolow einen ausführlichen Ermittlungsbericht für die Mutter Nikolaus’ II. – die verwitwete Kaiserin Marija Fedorowna. Sie hatte Russland ebenfalls verlassen und lebte in ihrer dänischen Heimat. Zudem schrieb er ein Buch auf Grundlage seiner Ermittlungen. 1924, im Alter von 42 Jahren, verstarb Sokolow in Frankreich.
Die Gebeine des Zarewitsch Alexei und der Großfürstin Maria sollen im Februar bei ihren Eltern, Nikolaus II. und Alexandra, und drei ihrer Geschwister in der Sankt Petersburger Peter-und-Paul-Kathedrale beigesetzt werden. Dort fanden seit Peter dem Großen zahlreiche russische Monarchen ihre letzte Ruhe. 1998 waren die Überreste der Zarenfamilie identifiziert worden, zwei Jahre später sprach man sie heilig, obwohl die Gebeine von Alexei und Maria verschollen blieben. 2007 wurden Knochen von zwei Menschen entdeckt, die auf ihre Beschreibung passten. DNA-Analysen zeigten, dass es sich um die vermissten Kinder handelt, aber die Russisch-Orthodoxe Kirche bestand auf weiterenUntersuchungen – schließlich gilt es zu klären, ob es sich bei den Knochen um heilige Reliquien handelt. Weitere DNA-Tests begannen vergangenen September. Der Kanzleichef des Hauses Romanow, Alexander Sakatow, erklärte, die Großherzogin Marija Wladimirowna spreche sich für eine Umbettung aus: „Sie wird den Tag begrüßen, an dem die Kirche die Asche der Verstorbenen würdigt.“
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