Die schöne Natur von Karelien. Foto: Andrej Iskrow
Die Republik Karelien im Nord-Westen Russlands ist so groß wie Tschechien oder Österreich, doch im Vergleich dazu weitaus dünner besiedelt. Rund 630 000 Menschen leben in dieser russischen Region. Großstädte gibt es hier keine und die meisten Siedlungen liegen aufgereiht entlang der Eisenbahnstrecke von Sankt Petersburg nach Murmansk.
Der Stadtschild in Russisch und Finnisch. Foto: Andrej IskrowEines der regionalen Zentren ist die Stadt Kostomukscha, die rund 1 500 Kilometer von Moskau entfernt liegt. In der Nähe gibt es eines der größten Eisenerzvorkommen weltweit. Kostomukscha ist eine junge Stadt – erst 1970 wurde sie erbaut. Zwei karelische Dörfer mussten ihr weichen. Heute ist sie die drittgrößte Stadt der Republik und auch die wohlhabendste: Das örtliche Bergbaukombinat, ein Tochterunternehmen von Severstal, fördert und verarbeitet Eisenerz und ist der größte Steuerzahler der Region.
„Wir in Karelien genießen einen Sonderstatus“, sagt Nikolai (alle Namen wurden geändert), Mitarbeiter der Stadtverwaltung und ehemals Vorarbeiter beim Bergbaukombinat. „Bis Petrosawodsk sind es 500 Kilometer, bis zur finnischen Grenze nur 30. Jeder hier hat ein Auto und ein Schengen-Visum. Also fahren wir nach Feierabend zu unseren finnischen Nachbarn, um einzukaufen“, erklärt er. In der Grenzregion gehören solche Kurztrips zum Alltag. Die Russen kaufen in Finnland hochwertige Lebensmittel ein. Aber auch die Finnen nutzen die Nähe. Sie machen beim Kauf von Spirituosen und Tabakwaren in Russland ein Schnäppchen. Die Steuern sind dort deutlich niedriger.
So sonderbar es für eine ehemals sowjetische Siedlung auch sein mag: Die meisten Bauwerke in Kostomukscha und das Bergbaukombinat wurden von Finnen erbaut. In den anliegenden Verwaltungsgebieten gab es weder größere Städte noch gute Straßen. Also beschloss die Sowjetführung, die finnischen Nachbarn mit dem Bau zu beauftragen. Der finnische Einfluss ist in der Stadt daher allgegenwärtig: Europäisch anmutende Mehrfamilienhäuser und viele Bäume säumen die Straßen, die Gullydeckel sind auf Finnisch beschriftet.
Freundschaft mit den Finnen hat in der Region lange Tradition. Selbst der Russisch-Finnische Krieg (1939-1940) ließ die Gegend unberührt. „Seit Jahrhunderten leben unsere Völker Seite an Seite“, sagt Daniil, Mitarbeiter des lokalen Campingplatzes. „Das Karelische und die nordfinnischen Dialekte sind derart verwandt, dass wir uns mühelos verstehen. Viele Stadtbewohner haben Verwandte in Karelien und hinter der Grenze. Deswegen nutzen Finnen unseren Platz gerne.“
Mehrfamilienhaus finnischer Art. Foto: Andrej Iskrow
In der Gegend um Kostomukscha hat der finnische Philologe Elias Lönnrot auch die mündliche Volksdichtung – die Runen – aufgezeichnet, auf dessen Grundlage das finnische Nationalepos „Kalevala“ entstand. „Das Kalevala ist also auf karelischem Boden entstanden. Nicht ohne Grund bezeichnen es die Wissenschaftler als finnisches und karelisches Epos“, sagt Daniil.
Wie jede andere russische Monostadt auch ist Kostomukscha gänzlich von einem einzigen Unternehmen – hier dem Bergbaukombinat – abhängig. Jede Veränderung dort, vor allem beim Geschäftsergebnis, hat Einfluss auf das Leben in der Stadt.
Die Arbeit im Kombinat ist durchaus einträglich, doch auch kräftezehrend und, wie einige klagen, nicht folgenlos für die Gesundheit. „Mein Vater hat 30 Jahre seines Lebens im Bergbau gearbeitet. Als er in Rente ging, war er ein sehr kranker Mann“, berichtet Galina, Daniils Ehefrau. „Keine fünf Jahre hat er die Rente überlebt.“
Auch ihr Bruder ist von der Arbeit gezeichnet. „Er ist erst 35, sieht aber schon aus wie 50. Ich würde mir wünschen, dass er aufhört dort zu arbeiten.“ Doch Galinas Bruder hat eine Familie zu versorgen. Für ihren Sohn wünscht sie sich eine andere Zukunft: „Mein Sohn soll nicht im Kombinat arbeiten“, erklärt Galina und man spürt, wie ernst es ihr damit ist. Fast in jeder Familie in Kostomukscha gibt es solche Geschichten zu erzählen. Aber Alternativen zur Arbeit im Bergbau gibt es kaum.
Ein karelisches Holzhaus. Foto: Andrej Iskrow
Die weite Entfernung der Stadt von anderen Siedlungen wirkt sich ebenfalls aus. Die Abgeschiedenheit und der Mangel an Freizeitangeboten führten dazu, dass Kostomukscha in den Neunzigern den wenig schmeichelhaften Beinamen „Aids- und Drogen-Hauptstadt Kareliens“ führte, wie Galina erzählt. Das habe sich zwar etwas gebessert, doch weiter fehle es an Abwechslung in der Stadt: „Die jungen Leute zieht es zum Studium und für die Arbeit in die Großstädte.“
Für die Monostädte im Norden Russlands sind das typische Probleme. Viele davon haben in den vergangenen Jahrzehnten den wirtschaftlichen und industriellen Niedergang erlebt, einige haben sich in Geisterstädte verwandelt. Kostomukscha steht noch gut da. Die Geschäfte des Kombinats laufen, es gibt Arbeitsplätze. Die grenznahe Lage bietet die Chance, dass sich auch andere Wirtschaftszweige entwickeln. In den letzten Jahren sind einige russisch-skandinavische Joint-Ventures gegründet worden, etwa im Bereich der Holzverarbeitung oder Technologie. Auch der Tourismus hat zugelegt. „Kostomukscha hat eine große Zukunft“, ist denn auch Nikolai überzeugt. „Ich hoffe, den Tag noch zu erleben, an dem wir unseren Flughafen wiedereröffnen und die Staatsführung uns anlässlich eines Stadtjubiläums einen Besuch abstattet.“ So wie es früher einmal war.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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