Obdachloser Gästeführer: Ein Leben auf der Straße

Julia Tislenok
Sankt Petersburg hat eine neue Attraktion: Führungen durch die Hauptstraße Newski-Prospekt, die von Wyatscheslaw Rasner geleitet werden – einem Rentner ohne eigenem Wohnsitz. Trotz einiger Berühmtheit ist er bescheiden geblieben.

Der Rentner Wyatscheslaw Rasner ist bereits zu einer kleinen Berühmtheit in Sankt Petersburg geworden. Foto: Julia TislenokDer Rentner Wyatscheslaw Rasner ist bereits zu einer kleinen Berühmtheit in Sankt Petersburg geworden. Foto: Julia Tislenok

Ausflüge und Touren zählen in Sankt Petersburg im Sommer zu den wichtigsten Angeboten für Touristen. Unter den vielen Kundenfängern an der Admilartejskaja-Station fällt einer besonders auf. Der Mann ist ordentlich, aber merkwürdig gekleidet. Statt der üblichen bunten Weste hat er ein altes Sakko an, dazu eine weite Hose und amüsante riesige Galoschen. Leicht nach vorne gebeugt steht er da. Unter seinem grauen Bart ist ein Namensschild zu erkennen: Wjatscheslaw Romanowitsch Rasner.  

Ein Petersburg-Kenner unter den Fremdenführern

„Früher habe ich als Erdkundelehrer gearbeitet“, erzählt Rasner. Der Fremdenführer recherchiert Informationen für seine Touren nicht im Internet, sondern in der Majakowski-Bibliothek. „Dort gibt es die Abteilung für Petersburg-Kunde. Die Mitarbeiterinnen kennen mich und empfehlen mir gute Bücher“, sagt er. 

Wjatscheslaw Rasner beginnt seine Tour auf der linken Seite des Newski-Prospekts, an der Ecke des Hauptstabs der Eremitage. An uns gehen Touristen vorbei und wir, drei junge Frauen unter einem Regenschirm, hören uns die Erzählung über das Haus №1 an. Wir hören von einem Birkenhain, der sehr lange im Zentrum der Sankt Petersburger Hauptstraße wuchs, und von dem provisorischen Winterpalast der Kaiserin Elisabeth I. Es wird von den Menschen erzählt, die in diesen Häusern wohnten, als diese noch ebenerdig waren. Während unser Fremdenführer erzählt, fällt der Regen auf uns herab.

Rasner ist an jede Wetterlage gewohnt: Sechs Jahre lang lebte er wortwörtlich auf der Straße. Alles begann damit, dass der frühere Lehrer aus seiner Wohngemeinschaft flog, weil er in seinem Zimmer über 20 Katzen und Hunde hielt. Ein regionales Gericht wies ihn an, die Tiere in ein Tierheim zu geben, doch er konnte sich nicht von seinen Lieblingen trennen. Das war im Jahr 2000. Die folgenden Jahre kam er bei einem Freund unter, bis er 2010 von Immobilienmaklern betrogen wurde. Danach lebte er auf der Straße. Manchmal schlief er auf dem nackten Asphalt, Wärme gaben ihm nur seine Hunde.

Der Traum des Obdachlosen

Foto: Julia TislenokFoto: Julia Tislenok

Die Geschichte nahm eine glückliche Wendung, als Swetlana Kotina ihn fand. „Ich gehe morgens immer ins Schwimmbad. Irgendwann habe ich diesen seltsamen Obdachlosen bemerkt“, erzählt Kotina, die ehrenamtlich bei der Wohltätigkeitsorganisation Notschlezhka (auf Deutsch: Nachtasyl) tätig ist. „Es war im Februar und sehr kalt. Abends kam ich noch einmal mit einem Kaffee zu ihm und er traute sich, mich anzusprechen“, erinnert sie sich. Der Rentner sagte gleich, dass es sein Traum sei, Touren zu leiten.

Notschlezhka half ihm zuerst, über die Runden zu kommen, und die Juristen stellten für ihn einen Antrag auf Wohnraum. Dann tauchte eine alte Frau auf, die bereit war, dem obdachlosen Fremdenführer eine Unterkunft zu gewähren. Nun wohnt er in der Küche der Einzimmerwohnung der Rentnerin.  

Weil sich Wjatscheslaw Rasner mit dem Computer nicht auskennt, hat Notschlezhka die Werbung für seine Touren übernommen. Inzwischen zählt die eigens eingerichtete Gruppe im russischen sozialen Netzwerk Vkontakte, die zu einer „Tour mit Rasner“ einlädt, über 4 000 Benutzer. Doch der Rentner ist bescheiden geblieben. Er lebt spartanisch, geht abends um acht ins Bett und steht sehr früh auf.

Während der Hauptsaison bietet Rasner drei Führungen am Tag an: um neun, zwölf und 15 Uhr. Eine Tour kostet 500 Rubel (etwa sieben Euro) pro Person. „Meine Beliebtheit macht müde“, seufzt der Fremdenführer: „Ich muss allen erklären, dass ich kein Alain Delon bin.“

Ausflüge zu zweit

Foto: Julia TislenokFoto: Julia Tislenok

Darum hat er jüngst Unterstützung erhalten. Seine Freundin, die früher Führungen in der Isaakskathedrale leitete, macht die Route für die linke Seite des Newski-Prospekts mit ihm zusammen. Außerdem hat sich eine Studentin, die Konferenzdolmetschen studiert, bereit erklärt, bei Führungen mit Ausländern zu übersetzen. Die „Tour mit Rasner“ wird üblicherweise von zwei bis drei Touristen gebucht, manchmal können es aber auch zehn sein. Für diesen Fall schenkte eine lokale Musikhandlung dem Rentnerpaar einen Lautsprecher.

Die Führung ist zu Ende. Die Mädchen fragen, ob sie das nächste Mal ihre Freunde zur Führung mitbringen dürfen. „Ja, klar!“, antwortet der Rentner etwas müde. Langsam schlendert Rasner zu einem Geldautomaten, um sein Honorar auf sein Konto einzuzahlen.

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