Erstmals wird in Russland über sexuelle Gewalt diskutiert.
Vostock-PhotoMit einem Post auf Facebook am vergangenen Dienstag veränderte Anastasia Melnitschenko alles: „Ich will, dass wir Frauen jetzt zu Wort kommen. Dass wir über die Gewalt sprechen, die die meisten von uns erlebt haben“, schrieb die ukrainische Journalistin, und weiter: „Nicht wir sind schuld, schuld sind immer die Vergewaltiger. Ich habe keine Angst zu sprechen.“ Es folgte ein Bericht über sexuellen Missbrauch, der Melnitschenko widerfuhr, als sie sechs Jahre alt war.
Ihr Bekenntnis löste eine Lawine aus: Unter dem Hashtag #yanebajusskazat (auf Deutsch: #IchHabeKeineAngstZuSprechen) erzählten seither Hunderte Ukrainerinnen – viele von ihnen zum ersten Mal – öffentlich, welche sexuelle und psychische Gewalt sie erlitten haben. Auch viele Russinnen beteiligten sich bald an der Aktion.
„Als ich 19 war, vergewaltigte mich ein Freund der Familie meiner Freundin. Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern, aber ich werde nie sein Gesicht vergessen, als er auf mir lag“, schrieb beispielsweise Julia Lapizkij. „Ich bin mächtig stolz auf alle Frauen, die jetzt darüber sprechen. Und ich bin stolz auf mich. Ich habe so lange geschwiegen.“
Aljona Wladimirskaja, Gründerin der Personalagentur Pruffi, erzählt von einer besonders schweren Tat: „Es war im Sommer, gegen Mittag, helllichter Tag. Ich war schwanger und kehrte vom Einkaufen nach Hause zurück. Mir war schlecht und übel und entsprechend sah ich auch aus. Hinter mir betrat ein Mann den Hauseingang. (…) Im Treppenhaus drückte er mich an die Wand, zog ein großes Küchenmesser heraus, hielt es mir an meinen Bauch und sagte, ich solle mich ausziehen.“ Aus Angst davor, ihr Kind zu verlieren, tat sie, was der Mann von ihr wollte.Viele der Geschichten handeln von Lehrern, Freunden der Familie, Trainern, Bekannten und Kommilitonen. Nicht immer enden sie mit physischer Gewalt, manche Frauen kommen mit dem Schrecken davon. Einige bekennen, dass sie die Situation gar nicht richtig erfasst hätten, andere sagen, die Begebenheit hätte keine Narben in ihrer Psyche hinterlassen. Besonders schlimm sind für viele Frauen aber der Unglaube und die Skepsis, auf die sie selbst bei Freunden und Verwandten stießen: „Man bezichtigte mich der Lüge“, schrieb eine, „Meine Eltern verdrängten die Angelegenheit und es wurde niemals wieder darüber gesprochen“, eine andere.
Ein überwältigendes Echo erhielt der Hashtag auch vonseiten der Männer, die sich in ihren Kommentaren zunächst vor allem schockiert zeigten: „Oh Gott, ich hätte nie gedacht, dass es so viele Dreckskerle gibt!“ Bald folgten aber auch Sarkasmus, Missbilligung und sogar Scherze: „Auf Facebook liest man nur noch den Hashtag IchHabeKeineAngstZuSprechen. Hauptsache, man liegt im Trend und erntet mitfühlende ‚Achs!‘ und ‚Ohs!‘“, kommentierte ein Nutzer.
Nichtsdestoweniger überwog das Mitgefühl in den Kommentaren des männlichen Geschlechts. Einige bekannten, dass sie selbst fast Opfer anderer Männer geworden seien: „Wir gingen zum Rauchen auf die Treppe zwischen der ersten und zweiten Etage, plötzlich kommt ein Kerl an, schlägt mich vor die Brust, fällt dann auf die Knie und versucht fieberhaft, den Gürtel meiner Jeans aufzubekommen. Für ein paar Sekunden stand ich starr vor Schreck da und versuchte fieberhaft zu überlegen, wie ich in dieser Situation reagieren sollte“, schrieb Alexej Ametow, Generaldirektor des Verlagshauses Look At Media.Mittlerweile ist der Hashtag #IchHabeKeineAngstZuSprechen zu einer der wichtigsten und heftigsten Online-Aktionen mutiert. Vor allem die Vielzahl an Bekenntnissen schockiert das Netz – denn es melden sich mitunter Menschen, von deren Unglück manche nichts geahnt haben. „Da unterhältst du dich mit deiner Kollegin, trinkst mit ihr Kaffee, alles ist fein. Dann kommst du nach Hause und liest ihren Bericht unter #IchHabeKeineAngstZuSprechen. Es zeigt sich, dass die Gewalt viel näher ist, als wir früher dachten“, schrieb so etwa Bogdan Srobok.
Dass das Thema sexuelle Gewalt so breit diskutiert wird, ist für die russische Gesellschaft neu. Die Menschen hätten Angst, darüber zu sprechen, denn es sei ein Tabuthema, erklärt Maria Mochowa, Leiterin des Zentrums für Opfer sexueller Gewalt „Schwester“, in einem Gespräch mit RBTH. „Es gibt immer noch eine ganze Reihe Länder, in denen die Betroffenen als verdorben gelten. Auch in der Sowjetunion gab es viele Vorurteile. Die Menschen verbargen es, wenn es sich verbergen ließ, und lebten mit diesem Schmerz im Inneren“, sagt Mochowa.
„Rufen Sie diesen Hashtag auf – und Sie landen in der Hölle“, wurde der Theaterkritikerin Alla Schederowa gesagt. „Ich rufe ihn auf. Doch es ist umgekehrt: Dieser Hashtag ist nicht der Weg in die Hölle, sondern der Weg aus der Hölle“, schrieb sie auf Facebook. So sieht das auch Mochowa: Wenn sich jetzt eine reale und breite Diskussion ergäbe, würde sich dies auf die Situation der Betroffenen positiv auswirken, glaubt die Expertin. In gewissem Maße könne die Aktion eben jener Weg aus der Hölle werden. „Aber ich habe ernsthafte Bedenken, weil das Parlament jetzt in der Sommerpause ist, alle sind in den Ferien“, räumt Mochowa ein. „Wenn alle wieder zurückkommen, stehen die Wahlen vor der Tür. Dann wird dieses Problem wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden“, befürchtet sie.Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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