Soziologen sehen eine Idealisierung der UdSSR als Grund für die Nostalgie.
Maxim Bogodvid / RIA NovostiAls die Staatschefs Russlands, der Ukraine und Weißrusslands – damals noch Sowjetrepubliken – am 8. Dezember 1991 durch das Belowescher Abkommen das Ende der Sowjetunion besiegelten, war Murat nur wenige Monate alt. Er hat die Sowjetunion nicht mehr bewusst erlebt, vermisst jedoch das damalige Leben.
Heute ist Murat 25 Jahre alt. Er arbeitet in einem russischen Ministerium, ist mit seinem Gehalt und seinem Leben recht zufrieden – und dennoch sei es in der UdSSR besser gewesen, ist er überzeugt. „Kostenlose Bildung, kostenlose Gesundheitsfürsorge“, zählt er die Vorteile der späten Sowjetunion auf. „Die Menschen lebten zwar bescheiden, doch der Staat kümmerte sich um sie. Heute gibt es krasse Widersprüche, das Geld regiert: Recht hat, wer stärker ist. In der Sowjetzeit gab es das nicht.“
Der Anteil jener, die sich die Sowjetunion zurücksehnen, sei traditionell bei Menschen über 55 und den Bürgern in ländlichen Gegenden höher – bei Bevölkerungsgruppen aus prekären Verhältnissen also, sagt Karina Pipia, Soziologin des Lewada-Zentrums. Nicht selten vermissten aber auch solche Menschen wie Murat die UdSSR: erfolgreiche, in die neue Gesellschaftsordnung integrierte Menschen, die die Sowjetunion nicht kennen. Sie machen rund die Hälfte aller befragten jungen Menschen aus, sagt Michail Mamonow, Chef-Analyst bei VCIOM.
Auf die Frage nach den Vorzügen der UdSSR nennen die Teilnehmer der Umfragen laut Mamonow immer dieselben Faktoren: soziale Sicherheit, starker Staat, Gerechtigkeit. „Niedriges, aber sicheres Einkommen, Arbeitsplatzgarantie: In einer Zeit harter Marktkonkurrenz haben die Menschen das verloren. Daher schauen sie in die Vergangenheit, wo es das alles, wie sie glauben, gegeben habe“, sagt der Soziologe.
Vergangene Umfragen des Lewada-Zentrums zeigen, dass die Sehnsucht nach der Sowjetunion im Jahr 2000 ihren Höhenpunkt erreicht hatte: 75 Prozent der Russen bedauerten damals den Zerfall der UdSSR. Im Verlauf der 2000er-Jahre ging der Anteil der Nostalgiker auf 49 Prozent zurück, seit 2013 aber ist wieder ein Aufwärtstrend zu beobachten.Diese Entwicklung zeige, dass die Hauptursache der Nostalgie eine ökonomische sei, sagt der Soziologe Mamonow. Im Jahr 2000 erreichte die Bevölkerungsarmut ihren Höhepunkt. Am meisten habe den Russen damals die Stabilität der Sowjetzeit gefehlt, erklärt der Experte. Seit Beginn des neuen Jahrtausends sind die Einkommen mit der Wirtschaft gewachsen, die Sehnsucht nach der Vergangenheit nahm ab. Mit der Wirtschaftskrise kommen die nostalgischen Gefühle aber wieder hoch.
Nina Metschtajewa ist 65. Den Großteil ihres Lebens hat sie in der Sowjetunion verbracht. Aber im Gegensatz zu ihren Altersgenossen will sie nicht zurück: „Heute ist natürlich nicht alles ideal“, sagt sie. „Aber wer heute sagt, wie wunderbar das Leben in der Sowjetunion war, vergisst, wie es wirklich war: ständige Schlangen in Geschäften und Krankenhäusern; ewige Parteisitzungen, wo Dinge verkündet wurden, an die längst keiner mehr glaubte; die Isolation des Landes“, zählt die Rentnerin auf. „Wer sich nach der Sowjetunion sehnt, will einfach in seine Jugend zurück, die er in dem Land verbrachte“, ist sie überzeugt.
Mamonow stimmt zu, dass sich das nostalgische Bild der Sowjetunion von der wirklichen Lage im Land der Sowjets stark unterscheidet: „Die UdSSR wird heute zum großen Teil idealisiert. Die positiven Momente werden maßlos überbewertet, die negativen Aspekte werden vernachlässigt oder verharmlost“, sagt der Soziologe.Trotz dieser Beliebtheit der Sowjetepoche, die im Bewusstsein der Menschen eng mit dem Sozialismus verbunden ist, sind linke Bewegungen im heutigen Russland nur mäßig erfolgreich. Für die Kommunistische Partei, die sich zur Nachfolgerin der KPdSU erklärt hatte, stimmten bei den letzten Duma-Wahlen nur 13 Prozent der Bürger – 2011 waren es noch 19 Prozent. „Die Liebe zur UdSSR spiegelt sich am Erfolg der heutigen Linken nicht wider – sei es die Kommunistische Partei oder die Gewerkschaften“, sagt Mamonow. Diese Organisationen würden mit der Sowjetunion nicht in Verbindung gebracht. „Zudem sind die meisten Menschen – 70 bis 75 Prozent – davon überzeugt, dass es kein Zurück mehr in die Sowjetepoche geben kann“, betont der Soziologe.
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