Die Uneinigkeit der Bewegung sollte schließlich zu ihrem Niedergang führen.
RIA Novosti„Die Proteste 2011 begannen für mich, wie für alle anderen auch, mit den Duma-Wahlen am 4. Dezember“, erzählt Pjotr Komarjowzew, Doktorand der Fakultät für Journalismus an der Staatlichen Moskauer Universität. Damals war eine recht aktive Kampagne in Gange, die durch den Oppositionellen Alexej Nawalnyj angeregt worden war. Ihr Slogan: „Stimme für jede Partei, außer Einiges Russland“.
„Es wurde ein Ausbruch an Aktivität wahrgenommen, alle sprühten vor Energie“, sagt Pjotr. „Und sie gingen in die Wahllokale und stimmten für „jede Partei außer“. Danach sagte man ihnen, sie seien betrogen worden.“
Die Parlamentswahlen 2011 verliefen tatsächlich skandalös. Golos, eine Bewegung zum Schutz der Wählerrechte, zählte die Verstöße zugunsten der Partei Einiges Russland auf: Vernichtung abgegebener Stimmzettel, mehrmalige Stimmabgabe durch dieselben Menschen in verschiedenen Wahlabschnitten, Verstöße während der Stimmauszählung. Die Manipulationen waren bereits am Wahltag das wichtigste Gesprächsthema.
„Eine große Rolle spielte das Internet – die Menschen erfuhren, was los war, nahezu in Echtzeit“, erzählt der Erste Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, Alexej Makarin. „Das machte die Menschen wütend, und sie gingen auf die Straße.“
Makarin sieht weitere Gründe für die Proteste von 2011: Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung das politische Feld „gesäubert“. Die Direktwahlen der Gouverneure wurden abgeschafft. Die Zahl der in Russland registrierten Parteien wurde auf sieben verringert. Viele Politiker und Bewegungen – Linke, Nationalisten, Liberale – befanden sich plötzlich nicht mehr in der Arena der offiziellen Politik, sagt Makarin.
Eine große Rolle spielte das Internet – die Menschen erfuhren, was los war, nahezu in Echtzeit. Foto: Vladimir Astapkovich / RIA Novosti
„Es war kalt, es fiel viel nasser Schnee und von der Bühne herab schrie Nawalnyj: „Wir beißen diesen Biestern die Kehle durch!““, erinnert sich Pjotr an die erste Kundgebung, die am 5. Dezember am Teich Tschistyje Prudy stattfand. „Und aus der Masse heraus drangen immer stärker werdende Rufe, die zur Bühne hin zu einem mächtigen Brüllen anschwollen: „Wir vergessen nicht – wir verzeihen nicht!““. Nach verschiedenen Einschätzungen nahmen an der Demonstration damals zwischen 2 000 und 10 000 Menschen teil.
Die Proteste setzten sich fort und nahmen an Umfang zu. Am 10. Dezember versammelten sich auf dem Bolotnaja-Platz bereits zwischen 25 000 und 80 000 Demonstranten, die Neuwahlen forderten. Zu der Kundgebung am 24. Dezember kamen noch mehr Menschen – 120 000 Demonstranten. Zu Ehren des Bolotnaja-Platzes, auf dem danach noch weitere Protestaktionen stattfanden, wurden die Demonstrationen der Jahre 2011 und 2012 als „Bolotnaja-Proteste“ berühmt. Auch in anderen Städten Russlands kam es zu Demonstrationen. Die Teilnehmer stammten aus den unterschiedlichsten Lagern: Liberale, Linke, Nationalisten und Politikverdrossene vereinten sich.Makarin vermutet, dass eben jene Vielfalt der Anschauungen der Demonstranten und ihrer Anführer die „Bolotnaja-Proteste“ mit der Zeit zum Erliegen brachte. Es habe keine einheitliche Vorstellung von der Zukunft gegeben, die die Demonstranten hätte einigen können. „Die politische Agenda lautete: Mehr Freiheit und Demokratie“, sagt der Politologe. „Aber sobald es um die Wirtschaft und den Sozialbereich ging, begann der Streit.“
Für die Bevölkerung jedoch, so glaubt der Experte, sei gerade die Wirtschaftsagenda entscheidend. Die Opposition, die Hunderttausende auf die Straße der Städte gebracht hatte, vermochte es nicht, die Millionen des Landes zu aktivieren. Im Frühjahr 2012 nahm die Zahl der Kundgebungsteilnehmer ab. „Die Protestbewegung verfügte nicht über einen tatsächlichen Führer, der die Menschen vereint und die Entscheidungen konsolidiert hätte“, konstatiert auch Pjotr.
Eine Demonstration endete in einer Massenschlägerei mit der Polizei. Foto: Andrey Stenin / RIA Novosti
Eine entscheidende Rolle spielte auch die Politik der Regierung. Sie reagierte mit einer Mischung aus Nachgeben und hartem Durchgreifen. Einerseits wurden Gesetze verabschiedet, die das Anmelden einer Partei erleichterten, und die Gouverneurswahlen wurden wiedereingeführt. „Die Regierung musste einsehen, dass es gefährlich ist, die „Daumenschrauben“ des politischen Lebens zu stark anzuziehen – so etwas kann das Fass zum Überlaufen bringen“, sagt Makarin.
Andererseits scheute sich die Regierung nicht davor, hart vorzugehen. Am 6. Mai 2012 endete eine Demonstration in einer Massenschlägerei mit der Polizei. Es folgten eine Reihe von Prozessen im sogenannten „Bolotnaja-Verfahren“: Bis heute noch werden in diesem Zusammenhang Menschen festgenommen, insgesamt waren es 36. Bislang wurden 15 von ihnen zu Haftstrafen verurteilt.
Die Möglichkeit einer gewalttätigen Auseinandersetzung habe viele Menschen in Angst versetzt, sagt Makarin: „Die Menschen bei uns fürchten staatsbürgerliche Konflikte. Sie haben Angst vor einem Bürgerkrieg. Man erinnert sich noch daran, was 1993 passierte, als im Zentrum Moskaus geschossen wurde“. Der Politologe nimmt an, dass ein wesentlicher Teil der Gesellschaft nach dem 6. Mai 2012 vor weiteren Protesten „zurückwich“.In dem Maße, wie das Interesse an den Protesten nachließ, verstärkte die Regierung die Konsolidierung einer gesellschaftlichen Einheit hinter konservativen Losungen. „Die Regierung widmete sich Dingen, die positive Reaktionen hervorriefen: Traditionen, Moral, die großartige Geschichte des Landes“, bemerkt Makarin. „Die Opposition hingegen wurde als Haufen Chaoten dargestellt, die versuchten, Russland zu zerstören.“
Diese Politik fand ihren besonderen Ausdruck 2014 mit der Angliederung der Krim, die von den Russen äußerst positiv aufgenommen wurde. „Die Anführer der Bolotnaja-Proteste unterstützten die Angliederung der Krim nicht“, sagt Makarin. „Das führte zu einer noch größeren Entfremdung zwischen der Opposition und dem größten Teil der Bevölkerung. Die Geschehnisse auf der Krim versetzten der Zeit der Bolotnaja-Proteste den Todesstoß.“
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