In Russland leben viele alte Menschen in Einsamkeit. Es gibt kaum eine Einrichtung, die sich um sie kümmert. Eine lobenswerte Ausnahme bildet Starost v radost (zu Deutsch: „Freude im Alter“). Bereits seit zehn Jahren macht diese Stiftung das Leben von Menschen in Pflegeheimen erträglicher. Heute genießt die Organisation im russischen Sozialwesen einen guten Ruf. Die Stiftung betreut 150 Seniorenheime in 25 russischen Regionen.
„Briefpartner-Enkel“
Mehr als 5 000 der pflegebedürftigen Menschen nehmen an der Briefpartner-Aktion der Stiftung teil. Sie erhalten regelmäßig Briefe von als „Enkel“ und „Enkelin“ bezeichneten Briefpartnern und schreiben zurück. Mit einem solchen Briefwechsel fing auch die Geschichte von Alexandra Kusmitschewa an, die heute die Mitteilungsblätter zu sozialen Themen und die Webseite der Stiftung betreut.
Alles begann im Jahr 2006. Damals fuhr Jelisaweta Oleskina, zu jener Zeit noch Studentin der philologischen Fakultät an der Moskauer Staatsuniversität, im Rahmen einer Folklore-Exkursion in den Nordwesten von Russland. Der Besuch eines Seniorenheims auf dem Land, in dem die Studenten viele Volkslieder zu hören bekommen sollten, bestürzte die Frau. Sie war schockiert, wie unnütz und einsam die alten Menschen sich dort fühlten. Nachhaltig beeindruckt von dieser Begegnung fing sie nach ihrer Rückkehr an, Reisen zu Seniorenheimen zu organisieren. So entstand eine Freiwilligenbewegung, aus der 2011 die Stiftung hervorging.
Jelisaweta Oleskina. Foto: Alexander Kuvshinov
Die Freiwilligen verstanden schnell, dass man den Bewohnern der Heime vor allem durch menschliche Zuwendung helfen kann. So fuhren sie zu ihnen, gaben Konzerte, veranstalteten gemeinsame Exkursionen und Kaffeekränzchen. Und da ein Besuch bei „Oma“ und „Opa“ nicht immer möglich war, startete die Organisation eines ihrer wichtigsten Projekte: die „Briefpartner-Enkel“.
Alexandra Kusmitschewa erinnert sich an eine alte Frau, der sie nach einem Briefwechsel in persona begegnen durfte: „Sie berührte mein Herz. Sie antwortete auf jeden meiner Briefe, sie erzählte immer fast wörtlich die gleichen Geschichten: über die Vergangenheit, ihre Töchter, über die Dankbarkeit gegenüber den Pflegerinnen. Am meisten wusste sie zu schätzen, dass niemand laut mit ihr sprach. Das rührte mich. Denn sie hörte nur, wenn man ihr aus aller Kraft ins Ohr schrie.“
Im Zentrum des Sozialwesens sollte der Mensch stehen
Auch materielle Hilfen sind unverzichtbar. Die Stiftung sammelt Geschenke zum Weihnachtsfest, beschafft aus Spendenmitteln Medikamente und Gebrauchsgegenstände für den Alltag, veranstaltet kreative und handwerkliche Workshops und kümmert sich um Reparaturarbeiten in den Wohnanlagen.
Wie Jelisaweta Oleskina, mittlerweile Direktorin der Stiftung, erläutert, hängt die finanzielle Ausstattung der Seniorenheime und deren interne Organisation weitgehend von der Region und der Heimleitung ab: „In einem Gebiet sind die alten Leute in Einrichtungen mit Schwimmbad und Kräuterbar untergebracht. In der angrenzenden Region kippt man beim Betreten eines Heims fast um vor Gestank und sieht dann Bewohner, die in ihren Betten liegen und teilnahmslos zur Decke starren.“Doch auch die schwierigsten Situationen lassen sich bewältigen. Die Mitarbeiter der Stiftung wissen aus ihrer Erfahrung, wie Fürsorge und Teilnahme das Leben eines kranken, bettlägerigen Menschen verändern können. Monatlich fließt daher ein Großteil der Spenden – etwa drei Millionen Rubel (rund 46 000 Euro) – in die Löhne der Pflegekräfte und sonstiger Dienstleister.
Die rund 1 500 Pflegeheime in Russland beschäftigen natürlich auch ihr eigenes Personal. Oft jedoch ist eine Pflegekraft, die für 20, gelegentlich sogar 30 Patienten sorgen muss, rein physisch nicht in der Lage, jedem Bewohner die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Im Mittelpunkt des heutigen russischen Sozialsystems stehe nicht der Mensch, klagt Oleskina. Es gehe um Bettenzimmer, Abteilungen und Rechtsvorschriften. Die von der Stiftung bezahlten Pflegekräfte haben daher eine konkrete Aufgabe: Sie sorgen für die Patienten, schaffen Gelegenheiten für soziale Begegnungen, fördern, so lange es geht, ihre Selbstständigkeit oder arbeiten mit ihnen daran, wieder mehr Autonomie zurück zu erlangen.
WartenaufdasNeujahrswunder
Das drängendste Problem der Stiftung ist ihre Finanzierung. Leiterin Oleskina legt große Hoffnung in den bevorstehenden Kampagnenmarathon, der noch vor dem Jahreswechsel stattfinden soll. 10 000 Menschen in ganz Russland sollen mobilisiert werden, die Stiftung mit einem monatlichen Betrag zu unterstützen. So könnten die Pflegekräfte ihre Arbeit fortsetzen und neue Projekte umgesetzt werden.
Mit einzelnen Regionen des Landes hat die Stiftung bereits jetzt vereinbart, die Sorge um die ältere Generation als übergeordnetes Ziel für das Jahr 2017 festzulegen. Das bedeutet, Personal zu schulen, Mindeststandards für die Pflege einzuführen und Unterstützung für Hilfsbedürftige zu organisieren, die aber noch selbst für sich sorgen können. Geplant sind außerdem eine engere Einbindung von Angehörigen der Heimbewohner und die Schulung von Psychologen für jede der von der Stiftung betreuten Einrichtungen.
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