Die erste wirklich kolonisatorische Expedition war jene des Kosaken Jermak gegen Kutschum im Jahr 1581.
Wasilij SurikowDie erste russische Sibirien-Expedition ging 1585 hinter dem Ural zugrunde. Nur 54 Jahre später standen die Russen am Pazifik. Dieses unvorstellbare Tempo, mit dem das Russische Reich die unbekannte Großlandschaft erschloss, sei der Beweis für das friedliche Vorgehen des damaligen Zarenimperiums, sagen einige Experten. Andere entgegnen: Die Erschließung derart schnell voranzutreiben, sei nur durch Aggression und Unterdrückung indigener Völker möglich gewesen.
Kontakte zwischen Russen und sibirischen Völkern gab es lange vor bewaffneten Expeditionen hinter das Uralgebirge. Der russische Mönch Laurentius erwähnt in seinen Chroniken aus dem 14. Jahrhundert einen gewissen Gjurata Rogowitsch aus Nowgorod. Dieser habe im elften Jahrhundert eine Expedition in das „Land der Jugoren“ unternommen. Die in den Chroniken erwähnten „erhabenen Berge und kupfernen Tore“ sind nach Ansicht der Historiker der Ural. Nach den Entdeckungsreisen von Rogowitsch verübten die Nowgoroder Flussräuber mehrmals Überfälle auf sibirische Ortschaften. 1483 schickten Moskauer Kriegsfürsten Expeditionen hinter den Ural. 1555 wurde das Sibirische Khanat – ein Überbleibsel des Mongolischen Reichs – zum Vasallen des Russischen Imperiums. Kurz darauf ergriff jedoch der Khan Kutschum, ein Nachkomme Dschingis Khans, die Herrschaft in Sibirien, stellte sich den Eroberern entschieden entgegen und begann, in seinem Khanat den Islam gewaltsam durchzusetzen. Bald fing er an, russische Grenzregionen anzugreifen. Die erste wirklich kolonisatorische Expedition war jene des Kosaken Jermak gegen Kutschum im Jahr 1581.
Kutschums Macht war indes nicht gesichert: Viele sibirische Völker wollten lieber den russischen Zaren als den muslimischen Khan. Dass nur 800 Kosaken ein 15 000 Mann starkes Heer des Dschingis-Khan-Nachfolgers zerschlagen konnten, liegt nicht zuletzt auch daran. Die sibirischen Völker der Chanten und Mansen weigerten sich, ihr Leben für Kutschum zu opfern, und legten reihenweise die Waffen nieder. Etliche Jahre danach führte Kutschum noch einen Partisanenkrieg gegen die Kosaken. Bei einem waghalsigen Übergriff gelang es ihm gar, Jermak zu töten. Doch die Kolonisierung Sibiriens aufzuhalten, lag nicht mehr in seiner Kraft. Die nachströmenden russischen Siedler überzogen Sibirien mit einem Netz von Festungen, die zugleich auch als Gefängnisse dienten. Später wurden sie zu großen Städten ausgebaut: 1568 wurde Tjumen gegründet (heute 720 000 Einwohner), 1604 folgte Tomsk (570 000 Einwohner) und 1628 Krasnojarsk (über eine Million Einwohner).Anders als das eroberte Amerika gilt Sibirien nicht als Kolonie – außer vielleicht in den Streitschriften radikaler Regionalisierungsbefürworter. Russland kannte keine Teilung in koloniale und zentrale Führung, Sibirien wurde schlicht zu einem Teil des Russischen Reichs. Lokale Eliten wurden in die russische Machtordnung integriert anstatt sie auszulöschen. Kutschums Sohn etwa kämpfte zwar gegen Russland, schloss aber letztendlich Frieden mit dem Reich, sodass Kutschums Enkel im Kassim-Khanat, einem Russland-Vasallen, als Regent eingesetzt wurde.
Vor der Ankunft der Russen lebten in Sibirien auf einer Fläche von 13 Millionen Quadratkilometern 200 000 bis 300 000 Menschen. Organisierten Widerstand gegen das Russische Reich gab es dort so gut wie keinen. Die indigenen Völker kämpften erbittert gegeneinander, für viele von ihnen war die „starke Hand des Zaren“ ein Rettungsschirm gegen die blutigen Bruderkriege. Je weiter die Kosaken gen Osten vorstießen, desto erbitterter aber wurde der Widerstand jener, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollten.
Auf den Territorien dieser freiheitsliebenden Völker stützten die neuen Machthaber ihren Einfluss vor allem auf Kosakenkontingente und Gefängnisse. Doch ließen sich die Einheimischen das nicht gefallen und rebellierten: Sie verübten Anschläge und brandschatzten. Die Kosaken reagierten mit denselben Mitteln: In Erzählungen der Jakuten waren die Russen laut dem Ethnologen Georgij Ergis „Schlächter und Henker“.
Auch die Tschuktschen kämpften bis zum bitteren Ende gegen die Kosaken. Manchmal siegten sie auch. Groß waren die Kämpfe freilich nicht: In der schwersten Schlacht am Fluss Orlowa starben 51 Kosaken. Doch die Reaktion des Zaren auf den Widerstand der Tschuktschen hatte in der Tat etwas von den Maßnahmen der Konquistadoren gegen die indigenen Völker Amerikas. 1742 erging im Russischen Reich ein Ukaz: „Gegen die widerspenstigen Tschuktschen mit bewaffneter Hand vorgehen, alle auslöschen“, lautete der Befehl.
Was die Kosakentruppen nicht vermochten, erledigten Epidemien für sie. Die Anfälligkeit für nie dagewesene Krankheiten hatten sibirische Völker mit den amerikanischen Ureinwohnern gemein: „Neue Erkrankungen schwächten und demoralisierten die indigenen Völker. Pocken rafften 80 Prozent der Tungusen dahin und 44 Prozent der Jukagiren“, schrieb der Historiker John Richards.Doch Versklavung und Völkermord waren nicht das Ziel der russischen Expansion in den Osten. Es ging darum, neue Territorien und Reichtümer zu erschließen sowie das Steueraufkommen zu erhöhen. Zu den Waffen griffen die Russen meist erst nach gescheiterten diplomatischen Bemühungen.
Heute leben in Russland 460 000 Burjaten und 480 000 Jakuten. Die Gesamtbevölkerung Sibiriens in den Zeiten der Eroberung betrug nicht mehr als 300 000 Menschen. Die Völker konnten ihre Identität erhalten: Beispielsweise leben heute in der Republik Sacha mehr Jakuten als Russen.
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