Das Denkmal für versunkene Schiffe ist ein Symbol von Sewastopol. / Vladimir Astapkovich/RIA Novosti
Der Flughafen in Simferopol ist für russische Bürger derzeit der einzige direkte Weg auf die Krim und wieder zurück. Der Weg mit der Fähre erfordert drei Umstiege. Eine Zugverbindung gibt es noch nicht – eine Route um die Ukraine herum soll im September fertiggestellt sein. Autofahrer müssen sich noch bis Ende 2018 gedulden – solange sollen die Bauarbeiten an der Kertsch-Brücke dauern. Deshalb landet am Simferopoler Flughafen alle zehn bis fünfzehn Minuten ein Flugzeug, fast immer voll ausgelastet.
Trotzdem scheint der Touristenansturm für die lokalen Taxifahrer nicht auszureichen. Beim Verlassen des Flughafens stürzt gleich eine ganze Herde auf mich. Absagen werden gereizt aufgenommen. Sie haben aber auch einen unschlagbaren Konkurrenten: den städtischen Obus, der für 129 Rubel (zwei Euro) zweieinhalb Stunden bis zum beliebten Urlaubsort Jalta über die Südküste der Krim fährt. Dagegen sind 1 000 Rubel (16 Euro) für eine Taxifahrt unverschämt teuer – zumal aufgrund von Stau und schlechten Straßen die Fahrtdauer sich nicht erheblich unterscheidet.
Die Trolleybusverbindung von Simferopol nach Jalta ist die längste der Welt. Auch RBTH-Korrespondentin Peggy Lohse hat sie schon genutzt. / Sergey Melikhov
Am Straßenrand liegen Müllberge. Meine Sitznachbarin, die Russischlehrerin Julia Minajewa, spottet, dass der Müll solange nicht weggebracht worden sei, wie die Obus-Verbindung existiere – und die gibt es seit 1959. „Die Ukraine hat sich damit nie befasst. Und Russland auch nicht“, sagt sie, schiebt aber ratlos hinterher: „Wie soll das alles weggebracht werden? Mit der Fähre? Immerhin wird die Straße, die den Flughafen mit der Stadt verbindet, mal erneuert. Danke dafür.“
Ich bin im Zentrum von Simferopol, der zweitgrößten Stadt der Krim mit 336 460 Einwohnern, 1 230 Kilometer südlich von Moskau gelegen. Für die moderne Geschichte der Halbinsel ist diese Stadt die problematischste. Neben den Russen leben hier viele Ukrainer (12,07 Prozent der Bevölkerung) und Krimtataren (8,31 Prozent), die im Westen als die wichtigsten Befürworter der Rückkehr der Halbinsel zur Ukraine gelten.
Hier gibt es wenig, was an einen Urlaubsort erinnert. Das Zentrum besteht aus alten und maroden sowjetischen Gebäuden, Leihhäusern, Dönerbuden und Büros von Kreditinstituten, die Geld innerhalb von fünfzehn Minuten und ohne Registrierung anbieten.
In einem Café will ich mir einen Morgenkaffee holen. Die etwa 40-jährige Kellnerin in langen Stiefeln mit hohen Absätzen, Leggins und einem Netzoberteil möchte mich nicht bedienen. Nach unbekannten Regeln des Urlaubsorts beträgt der Mindestbestellwert 100 Rubel (1,60 Euro), der Kaffee kostet jedoch nur 80 (1,30 Euro). Ich bin gezwungen, zusätzlich Teigwürstchen zu kaufen.
Am Nachbartisch betrinkt sich eine Gruppe von vier Frauen im mittleren Alter. Ich setze mich dazu und erzähle, dass ich das letzte Mal als Jugendlicher hier gewesen sei. Ich sage, dass ich nicht nur nach dem Beitritt zu Russland keinen Unterschied erkennen könne, sondern auch nicht seit dem Ende der Sowjetzeit. „Schau uns an!“, kontert eine von ihnen. „Wir sind glücklich! Wir sind wieder zu Hause, wieder mit Russland vereint. Unsere Kinder leben ohne Krieg, das allein ist schon ein Grund zum Lächeln!“ Da unterbricht eine andere: „Hören Sie nicht auf diesen Unsinn. Nichts hat sich verändert, nur die Preise sind jetzt dieselben wie in Moskau.“
Die Frauen fangen an zu diskutieren, ohne aber konkret zu werden. Ich setze mich wieder an meinen Tisch. Auf der Krim ist das oft der Fall. Stellt man die Frage, ob es nach dem Beitritt zu Russland schlechter oder besser geworden ist, können die meisten keine genaue Antwort geben. Ihre Haltung basiert auf persönlichen Gefühlen, oft auf Ärger. Da machen sie keinen Unterschied zwischen der alten ukrainischen Regierung und der neuen russischen.
Neben dem Café liegt die Verkehrsverwaltung des russischen Außenministeriums auf der Krim. Spontan versuche ich mein Glück, gleichwohl wissend, dass ich ohne Genehmigung der Behörden und Papiere aus Moskau wohl keine Antworten zu erwarten habe. Doch ich werde überrascht. „Es gibt jetzt viel mehr Arbeit“, erzählt mir Elena, eine Mitarbeiterin der Untersuchungsabteilung, ohne mich überhaupt nach dem Presseausweis zu fragen. „Die russischen Gesetze unterscheiden sich von den ukrainischen. Das betrifft vor allem Ordnungswidrigkeiten. Alles ist viel strenger. Und in Moskau achtet man darauf, dass alles auf einen Nenner gebracht wird.“
Elena kam in Feodossija auf der Krim zur Welt. Sie arbeitete im ukrainischen Polizeidienst und wechselte vor drei Jahren in den russischen. Alle Mitarbeiter mussten innerhalb eines Monats eine Entscheidung treffen: Kündigung oder Wechsel. Ich will wissen, ob jemand aus ihrer Abteilung abgelehnt hat. „Nicht einer. Alle waren froh, Russland beizutreten. Der Großteil beherrscht ja nicht einmal die ukrainische Sprache, diente aber der Ukraine. Wie geht das?“
„Was ist mit dem Eid?“, frage ich. „Wir haben einen Eid geschworen, den Menschen zu dienen. Und das machen wir weiterhin. Da gibt es keinen Unterschied.“ Veränderungen im Alltag will Elena keine bemerkt haben. Manchmal komme sie erst spät am Abend nach Hause, manchmal auch gar nicht, erzählt sie. Sie habe jedoch gehört, dass neue Straßen gebaut würden.
Polizisten und auch Soldaten gibt es in Simferopol sehr viele. Mit der Anwesenheit der Sicherheitskräfte und dem Umstieg auf die strengere russische Gesetzgebung sinkt die sicherlich vorhandene Euphorie des Beitritts zu Russland. Die ukrainische Regierung wird zwar überwiegend verachtet, doch die Begeisterung für die russische, die die Krim zurückgeholt habe, ist ebenfalls verflogen.
Zu den Enttäuschten gehören vor allem Besitzer von kleinen Geschäften und Kiosken, die von der neuen Regierung so gut wie auf der gesamten Halbinsel abgerissen wurden. „Früher mussten wir mit Banditen verhandeln, heute verhandeln wir mit Banditen, der neuen Polizei und den Beamten aus Moskau“, erklärt mir der Besitzer einer der wenigen Kioske auf dem Kirow-Prospekt. „Das Ganze kostet nun das Dreifache – das ist der Unterschied.“
Rifat Bekirow (links) betreibt das Restaurant „Krimski Dworik“ in Simferopol. / Legion Media
Ich fahre zum Stadtrand, um mich mit Rifat Bekirow, dem Besitzer des stadtbekannten Restaurants „Krimski Dworik“ zu treffen. Sein Lokal ist ein Treffpunkt für Krimtataren, Rifat selbst ist einer von ihnen. Er erzählt mir, dass er dem Beitritt anfangs skeptisch gegenüber gestanden hätte. Heute aber sei er froh.
„Es hat sich viel zum Besseren verändert. Alleine die neue Schule im Stadtteil, in dem überwiegend Krimtataren leben. Zehn Jahre haben wir auf ihre Fertigstellung gewartet. Russland hat sie in einem Jahr gebaut. Die Ausstattung der Schule steht den europäischen in nichts nach, es gibt Computerräume und Sporthallen“, erzählt Rifat. Außerdem werde die Kertsch-Brücke gebaut, ein neues Terminal am Flughafen, eine neue Moschee.
Die Arbeit sei auch weiterhin anstrengend, doch die Rente sei erhöht worden, fügt er hinzu. Und die Krimtataren, deren Familien 1944 deportiert worden waren, erhielten 500 Rubel (acht Euro) mehr. Und all das seit dem Beitritt zu Russland. „Was ist also so schlecht daran?“, fragt er. Eine rhetorische Frage, denn die Beschwerden der Unzufriedenen weist er ab: „So sind nun mal unsere Menschen, sie wollen alles und am liebsten sofort. Wie soll das aber gehen, wenn jahrzehntelang gar nichts gemacht wurde?“
Auch mit dem Geschäftsleben in Russland ist Rifat zufrieden. „Natürlich war es für uns Unternehmer zunächst schwer – die Ummeldung, die Bürokratie, andere Gesetze ... Aber die Arbeit fällt leichter. Früher konnte es vorkommen, dass wir zehn Steuerprüfungen im Jahr hatten. Der administrative Druck ist jetzt geringer.“
Wenn nun alles besser sei, so frage ich ihn, woher stammt dann der Mythos, dass viele Krimtataren unzufrieden seien? Rifat antwortet philosophisch: „Unzufriedenheit kommt immer vor, unabhängig von der Regierung. Zudem hat unser Volk so viel ertragen müssen, dass es dem Staat grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht. Mein Großvater zum Beispiel wurde 1937 enteignet. Er besaß eine eigene Karamellfabrik. Zusammen mit meiner Großmutter wurde er nach Zentralasien deportiert. Heute sehe ich keine Probleme mehr. Zahle deine Steuern, halte dich an die russischen Gesetze und propagiere keine extremistische Form des Islams. Dann wirst du auch nicht verfolgt.“
Damit will ich mich nicht zufriedengeben. Ich frage ihn direkt nach dem Anteil der Zufriedenen und Unzufriedenen. Er kann zumindest eine Einschätzung geben, weil er viele Krimtataren kennt – in der Stadtverwaltung bis hin im Medschlis, einem verbotenen Rat der Krimtataren. Er nennt mir Zahlen, die ich nicht erwartet habe: 70 zu 30, also mehr als zwei Drittel der Tataren seien zufrieden.
Mein nächster Halt ist Jalta, einer der wichtigsten Urlaubsorte der Krim, die Visitenkarte der Halbinsel oder die „Stadt der Freude“, wie es auf einem Schild am Eingang der Stadt heißt. Müll und Dreck gibt es hier nicht weniger als in Simferopol. Die Straßen sind genauso kaputt und der Touristenservice ist nach wie vor sowjetisch, also praktisch nicht vorhanden. Selbst Einkaufen nach 21 Uhr ist hier ein Problem. Bars oder Restaurants gibt es nur zwei in der ganzen Stadt. Im Sommer werden am Ufer zumindest Zelte aufgestellt.
Wie glücklich oder unglücklich die Menschen hier sind, ist ausschließlich von der Art der Beschäftigung abhängig. Zur zweiten Kategorie zählen vor allem die Taxifahrer. Eine Fahrt quer durch die Stadt kostet nicht mehr als 150 Rubel (2,40 Euro). Von den zwanzig Fahrern, mit denen ich gesprochen habe, ärgern sich alle, die im Jahr 2014 für den Beitritt zu Russland gestimmt haben. Die Einnahmen seien rapide zurückgegangen, die Preise hingegen seien gestiegen. „Touristen gibt es immer noch viele, aber ihre Zahlungsfähigkeit tendiert gegen null“, sagt Wladimir. „Russland schickt Sozialhilfeempfänger und Angestellte im öffentlichen Dienst hierher. Die kaufen nichts. Aber unser Leben hängt unmittelbar davon ab.“
Selbst Andrej, Mitglied der Bürgerwehr von Jalta und Afghanistan-Veteran, der 2014 das Regierungsgebäude auf der Krim stürmte und russische Flaggen hisste, ist enttäuscht: „Die Russen haben uns im Stich gelassen“, sagt er. „Die Uferpromenade ist schön, ja. Aber wer geht hier schon spazieren? Zuerst haben alle gerufen: ‚Die Krim ist unser, wir fahren nur noch hierher!‘ Und dann entscheiden sie sich doch für die Türkei.“ Ich werfe ein, dass auch die Bewohner der Krim etwas tun könnten, beispielsweise den Müll wegräumen oder den Touristen mit mehr Höflichkeit begegnen. „Das stimmt schon“, gibt Andrej zu, fügt aber hinzu: „Die Regierung kann an einem Tag ausgetauscht werden. Die Menschen umzuerziehen dauert Jahrzehnte.“
Kinder des Ferienlagers "Artek". Nicht jede Familie kann sich einen Aufenthalt dort für ihr Kind leisten. / Sergey Malgavko/RIA Novosti
Anders eingestellt sind alle, die in Bereichen arbeiten, die Russland nicht vernachlässigt hat. Moskau hat sechsstellige Summen investiert.
Das ehemalige Pionierlager „Artek“ war ein gewöhnliches sowjetisches Sanatorium. Heute ist es ein glänzendes internationales Kinderzentrum mit Sportanlagen und einem sauberen Strand. Mehr als 5 000 Kinder besuchen das Ferienlager jährlich. Umgeben von all den abgenutzten Gebäuden wirkt die Anlage wie ein Alien in der Landschaft.
Elina Luzkaja, stellvertretende Leiterin der Abteilung für pädagogische Arbeit, erhält ein monatliches Gehalt von 50 000 Rubel (800 Euro). Sie strahlt vor Freude: „Putin ist der Beste! Küssen Sie ihn von mir! Er hat in drei Jahren das geschafft, wozu die Ukraine zwanzig Jahre nicht imstande war. Die haben auf uns gepfiffen.“
Irina Belosjorowa, die in Jalta geboren wurde, ist eine der Organisatorinnen des Krim-Referendums von 2014. Sie habe sich schon immer Russland zugehörig gefühlt, sagt sie. / Sergey Melikhov
Irina Belosjorowa, geboren in Jalta, arbeitet seit fünfzehn Jahren bei der Stadtverwaltung und war eine der Organisatoren des Referendums im Jahr 2014. Auf die Frage der Unzufriedenheit gegenüber Russland reagiert sie gereizt. „Unzufrieden sind die, die nicht arbeiten wollen! Oder Korrupte, die von Büro zu Büro gegangen sind und mit Schmiergeld alles machen konnten, was sie wollten.“
Die Beamtin erzählt von einem Einkaufszentrum: „Vor ein paar Jahren wurde in der Mitte der Uferpromenade eine hässliche Mall gebaut, die die Sicht auf das Meer versperrte. Die Menschen waren unzufrieden und gingen auf die Straße, aber niemand konnte etwas tun. Einer der hiesigen Banditen wollte das eben so. Im letzten Jahr wurde diese Mall abgerissen. Mit Russland ist Ordnung eingekehrt.“
Das Referendum bedeutet für Irina viel. „Nie zuvor hatte es eine solche Begeisterung gegeben. Ich werde mich mein Leben lang daran erinnern. Meine Freundinnen und ich weinten vor Freude. Wissen Sie, wenn ich früher einen russischen Pass in meinen Händen hielt, habe ich mir vorgestellt, selbst einen zu besitzen. Meine Tochter bezeichnete die ukrainische Währung als Rubel. Dabei hat ihr das niemand beigebracht. Wir haben uns eben schon immer als Russen gefühlt, in allen Belangen. Gelebt haben wir nach fremden Gesetzen und in der Bürokratie in einer anderen Sprache.“
An einer Hauswand hängt ein Putin-Porträt. Sewastopol soll sich nicht nur russisch fühlen, sondern auch mit Russland identifizieren. / Sergey Melikhov
Sewastopol ist die letzte Stadt meiner Reise. Im Vergleich zum Rest der Krim ist das ein anderer Planet: saubere, renovierte und weiße Fassaden, eine aufgeräumte Uferpromenade, viele gut gekleidete Menschen, europäisch aussehende Jugend, Skateboards, Fahrräder, Mopeds, gutes Essen.
Die Szenerie erinnert mich eher an eine ruhige Kleinstadt in Südfrankreich. Doch genau hier begann 2014 die pro-russische Krim-Kampagne. Bis heute sind die Spuren von damals sichtbar: dort ein Teil einer improvisierten Barrikade, da ein Balkon in den Farben der russischen Trikolore, von dem Fenster drüben hängen eine UdSSR-Flagge und das Band des Heiligen Georgs herab, an einer Wand prangt ein Porträt von Putin als Befreier von Sewastopol.
„Das war noch gar nichts, aber heute ist die Hysterie vorbei“, erzählt mir meine Reiseführerin Julia, die als eine der wenigen die russische Staatsbürgerschaft vor drei Jahren abgelehnt hat. Heute besitzt sie lediglich eine Aufenthaltserlaubnis, die sie jedes Jahr verlängern muss. Eine feste Anstellung findet sie deshalb nicht. „Ich fühle mich nach wie vor als Ukrainerin, auch wenn ich in Orenburg auf die Welt kam. Seit 39 Jahren lebe ich in Sewastopol.“
Ein Mann mit Matrosenmütze bettelt an einer Uferstraße in Sewastopol. / Sergey Melikhov
Ich habe mich für Julia aufgrund ihrer Unbefangenheit entschieden. Wir spazieren auf dem Platz des Admirals Nachimow, wo pro-russische Kräfte die ersten Bürgerwehren gründeten. Seit dem Beitritt sei es ordentlicher geworden, erzählt sie aufrichtig. Es gebe kontinuierlich Wasser und Strom, was vor dem Referendum nicht der Fall gewesen wäre. Plätze, Gebäude und Straßen würden renoviert. Ein anderes Szenario als die Rückkehr Sewastopols zu Russland hätte es nicht geben können, sagt Julia ganz offen.
„Der Ukraine wird ständig vorgeworfen, dass sie die Krim übersehen und die Probleme der Halbinsel nicht verstanden hat. Das ist wahr. Kiew hat Sewastopol keine Aufmerksamkeit geschenkt. Und das, obwohl Sewastopol die Stadt mit dem größten russischen Patriotismus auf der Krim ist. Das ist schon immer so gewesen. ‚Russland komm!‘, ‚Putin, hilf‘ ‚Wir wollen nach Hause‘ – das habe ich schon mein Leben lang gehört“, berichtet Julia, die nun von den Einheimischen als Verräterin bezeichnet wird.
Ich frage, ob es hier noch mehr Menschen wie Julia gibt. „Wir waren etwa 1 000. Die Hälfte ist bereits sicher weg. 1 000 von 400 000. Ein Tropfen im Meer. Der Ausbruch des ‚Russischen Frühlings‘ hat mich nicht überrascht.“
Die Krim war früher ein Streitthema in der Familie von Wiktor und Ksenia Jewdokimow. Der Patriot konnte seine Frau schließlich überzeugen, mit ihm auf die Halbinsel zu ziehen. / Sergey Melikhov
Anders geht es Wiktor Jewdokimow und seiner Familie. Wiktor stammt aus Moskau und verließ die reiche Hauptstadt in Richtung Krim, um die Halbinsel aufzubauen. „Ja, ich bin einer dieser Besatzer“, lacht er.
Auf unseren Spaziergang begleiten uns seine Frau Ksenia und seine elfjährige Tochter Dana, die schon bald ein Schwesterchen bekommt. In Moskau gehörte Ksenia einem völlig anderen politischen Lager an. Sie arbeitete als künstlerische Leiterin im Club „Sawtra“ (zu Deutsch: „Morgen“). Im Jahr 2011 versammelte sich auf dem Bolotnaja-Platz die Anti-Putin-Opposition. „Mein Mann ist russischer Patriot. Über die Zugehörigkeit der Krim haben wir uns heftig gestritten“, erinnert sich die junge Frau.
„Als wir das erste Mal nach Sewastopol reisten, war ich sehr nervös. Doch als ich hier ankam, merkte ich, dass Sewastopol eine russische Stadt ist, sie wird sogar als ‚Stadt der russischen Seeleute‘ bezeichnet“, erzählt Ksenia. „Den Beitritt dieser Stadt als Besatzung zu bezeichnen, ist albern. Die Menschen sind glücklich, die Stadt ist geladen von fantastischer Energie. Diese Einheit macht Spaß, so komisch es aus meinem Mund auch klingen mag.“
Ihr Mann Wiktor, der in Moskau erfolgreicher Urologe war, arbeitet in Sewastopol als Kellner. Er musste bei null anfangen. Doch er sagt, das „Russisch sein“ sei ihm wichtiger. Übermäßigen Patriotismus nehme er aber nicht zu ernst, fügt er hinzu. „Diese Zeiten sind vorbei. Es wurde ruhiger, die Euphorie und das Warten auf ein Wunder sind vorüber.“
Service ist und bleibt ein Problem auf der Krim, denn Gastfreundschaft ist nicht allen Gastronomen ein Begriff. Daran hat sich seit Sowjetzeiten nichts geändert. / Sergey Melikhov
Mittlerweile seien die Menschen in der Realität angekommen. „Die Erwartungen waren zu hoch: steigende Löhne, niedrige Preise und Straßen aus Gold. Inzwischen hat jeder verstanden, dass man für Vergnügen zahlen muss“, sagt Wiktor. Die Preise seien jetzt wie in Moskau, wegen der Sanktionen und der russischen Gesetze müssten Kleinunternehmer dicht machen. Außerdem gebe es weniger Touristen: „Im Jahr 2014 kamen alle euphorisch hierher und reisten mit einem Schrecken wieder ab. Der Service hier ist eine Katastrophe.“
Trotzdem seien die Bewohner von Sewastopol Russland dankbar, betont Wiktor. „Für viele war die Sprache der wichtigste Aspekt. In den Schulen und im Rundfunk wurde den Menschen die ukrainische Sprache aufgezwungen. Sie haben ihr Leben lang Russisch gesprochen und sich für Russen gehalten. In der Stadt gibt es nur noch einen Laden mit einem Schild in ukrainischer Sprache, auf dem „Silpo“ steht. Aber alles ist in Ordnung, niemand hat ihn deshalb zerschlagen.“
Für das nächste Jahr hat die Familie Jewdokimow große Pläne. Ihre Wohnung in Moskau wollen sie verkaufen, um zusammen mit den Ersparnissen eine Eigentumswohnung in Sewastopol zu kaufen. Hier wollen sie eine Bar eröffnen, sie soll die beliebteste Touristenbar im Ort werden. „Ich kann nur das machen, was ich kann“, lacht Ksenia.
An der Uferpromenade wird es langsam dunkel. Der Harmonikaspieler, der als Seemann der Schwarzmeerflotte verkleidet ist, spielt traditionelle russische Kriegslieder wie „Tjomnaja Notsch“ („Dunkle Nacht“) und „Den Pobedy“ („ Tag des Sieges“). Es ist wohlgemerkt März und nicht Mai, doch die alten Damen, die den Musiker umzingeln, singen mit ganzer Inbrunst.
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!