Experten bezweifeln die Erfolgsaussichten der bisherigen Gegenmaßnahmen.
Kirill Braga/RIA NovostiSchwangere Studentinnen sollen sich von den Gebühren für ihr Studium befreien lassen können. Diesen Vorschlag unterbreitete die Ministerin für Bildung und Wissenschaft der Russischen Föderation Olga Wassiljewna. Das Vorhaben wird derzeit öffentlich diskutiert. Kommt es durch, könnten Studentinnen bereits in diesem Jahr von der Regelung Gebrauch machen.
Die Initiative ist nur eine von vielen staatlichen Maßnahmen, die die Geburtenrate steigen lassen sollen. Seit 2015 unterliegt die Zahl der Geburten in Russland einem stetigen Abwärtstrend. Die Erklärung ist einfach: Die Generation der 1990er-Jahre, besonders geburtenschwache Jahrgänge, ist herangewachsen und bringt entsprechend weniger Kinder auf die Welt als ihre Vorfahren. Die Sterblichkeit in den Regionen wiederum bleibt auf dem bekannten Niveau oder steigt gar an.
Verschiedene Varianten eines „Baby-Bonus‘“ für „junge Eltern“ sollen diesen Negativtrend nun stoppen. Ende Dezember 2016 beauftragte der russische Ministerpräsident gleich sechs Behörden mit der Ausarbeitung neuer Maßnahmen. Die Bildungsministerin und ihr Ministerium sind nur eine davon.
In der russischen Geschichte war die Familienpolitik selten von Fragen menschlicher Ressourcen, freier Zeit, flexibler Arbeitszeiten oder Geschlechterrollen geleitet. Es sei meist in erster Linie um Geld gegangen, meint Sergei Sacharow, Direktor des Zentrums für demografische Studien der Higher School of Economics.
Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich – innerhalb von zehn Jahren stiegen sie inflationsbereinigt von 250 000 auf 453 026 Rubel, also von 4 152 auf mehr als 7 500 Euro. Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil das zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70 Prozent der Wohnkosten decken.
Das Programm wurde nun für weitere zwei Jahre verlängert, wobei eine weitere inflationsbedingte Anpassung nicht vorgesehen ist. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen. In Chabarowsk zum Beispiel wird bei Geburt des dritten Kindes ein noch verbleibender Wohnungskredit komplett getilgt, in Mordwinien greift diese Regelung bei Geburt des vierten Kindes.
Zu den derzeit erörterten Vorschlägen zählt auch die Idee, kinderreiche Familien von der Vermögenssteuer zu befreien.
Fraglich bleibt indessen, wie wirksam umfangreiche „Finanzspritzen“ wie das Mutterkapital zur Erhöhung der Geburtenrate tatsächlich sind. Experten der Higher School of Economics kamen nach statistischen Berechnungen zu dem Ergebnis, dass seit Einführung des Mutterkapitals der Geburtenzuwachs pro Frau lediglich 0,15 Prozent betrug.
„Wir haben die Familien im Zeitraum von 2007 bis 2015 in gewisser Weise mit staatlichen Hilfen und politischen Maßnahmen überschüttet. Solche Anreize aber wirken im günstigsten Fall nur in einem begrenzten Zeitraum“, erklärt Sacharow im Interview mit RBTH. In einigen Fällen hätten die Maßnahmen die Nachwuchsplanung beeinflusst. So seien manche Kinder früher als geplant auf die Welt gekommen, andere mit einem geringeren Zeitabstand zum ersten. Im Ergebnis aber hätten das Mutterkapital und sonstige Programme wenig an den Einstellungen der Russen zur gewünschten Kinderzahl geändert (nach jüngst veröffentlichten Statistiken liegt die durchschnittliche Kennziffer bei 1,6 Kindern pro Frau). Ein neuer Kinderreichtum habe sich keinesfalls flächendeckend verbreitet, meint Sacharow.
Im Maßnahmenkatalog des Staates finden sich auch solche Ansätze, die einen breiteren Zugang zu künstlicher Befruchtung und eine Absenkung der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche um mindestens zehn Prozent bis 2020 erreichen wollen. Für letzteres Ziel fordern das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, einige Abgeordnete und der Ombudsmann für Kinder abwechselnd ein Verbot der Abtreibung oder einen Ausschluss aus dem Leistungskatalog der Krankenversicherungen. Das Gesundheitsministerium lehnt diese Vorschläge bislang konsequent ab.
Demografen glauben hingegen, dass andere Faktoren die Geburtenziffern in weit stärkerem Maße beeinflussen. So sei Russland mit einer bezahlten Elternzeit von 1,5 Jahren bei gleichzeitiger Arbeitsplatzgarantie weltweit unter den Spitzenreitern bei der Freistellung von der Arbeit nach Geburt eines Kindes. Von dieser Regelung aber profitierten langfristig weder die Arbeitgeber noch die Frauen. Nach Ende der Elternzeit müssten die Kinder noch für weitere eineinhalb Jahre kontinuierlich betreut werden. Mütter müssten dann zuhause bleiben, ohne weiter bezahlt zu werden. Ein System von Kindertagesstätten ist in Russland erst im Aufbau.
Die Vereinbarung von Kindererziehung und Arbeit ist in Russland ohnehin nicht einfach. Teilzeitregelungen für „junge Mütter“, die mit europäischen Standards vergleichbar wären, gibt es praktisch nicht.
Für Väter gibt es zudem weder eine vorgeschriebene noch eine freiwillige Elternzeit. Besondere Anreize für die Vaterrolle fehlen im System. Männer sind fast überall von der Kindererziehung und Betreuung des Nachwuchses ausgeschlossen. Auch gibt es kein dem Mutterkapital vergleichbares Programm für alleinerziehende Väter. In dem neuen Entwurf des Bildungsministeriums wird auch der Student, der demnächst Vater wird, nicht berücksichtigt. Er muss, wie es aussieht, weiterhin für sein Studium bezahlen. Auch kommt nur ein Elternteil in den Genuss der kostenlosen Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln.
„Die Rolle des Mannes in der russischen Familie und Gesellschaft ist bislang noch fast ausschließlich materieller Natur. Seine Aufgabe ist es, Geld zu verdienen“, stellt Sacharow fest. „Die Frau konzentriert sich weitgehend auf ihre Aufgaben als Mutter und Hausfrau. Und daran möchte der Staat nichts ändern. Der Grundpfeiler der staatlichen Politik ist derzeit der Konservatismus mit seinen traditionellen Familienwerten. Und unter diesem Vorzeichen wird sich in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Vater und Kind, wenig ändern.“
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