Sehnsucht nach Sicherheit: Wofür Russland 1,5 Millionen Wachmänner braucht

Es gibt in Russland mehr Wachleute als Polizisten. Das Sicherheitspersonal ist omnipräsent. Der Job ist relativ leicht und erfordert keine hohe Qualifikation. Trotzdem gehört Russland nicht zu den sichersten Ländern der Welt.

/ Ekaterina Lobanova/ Ekaterina Lobanova

Wer kennt sie nicht, die Wachmänner in den russischen Supermärkten, in Schulen und Kliniken, am Eingang gewöhnlicher Bürohäuser, auf Parkplätzen und in Parks, in Klubs und auf jedem Stockwerk eines öffentlichen Gebäudes. Fast alle haben eines gemeinsam: Einen gelangweilten Blick, ein Funkgerät und eine zerknitterte Uniform mit der Aufschrift „Security“.  

Russland ist ein Land des Sicherheitspersonals. Seine Anzahl übersteigt jedes Vorstellungsvermögen, obwohl dieser Beruf in Russland weder hoch angesehen noch gut bezahlt wird. Die meisten Russen behandeln Wachleute mit leichter Arroganz oder ignorieren sie einfach.

Nichtsdestotrotz arbeiten viele Menschen in den Sicherheitsfirmen und diese können sich über ausreichend Kunden nicht beklagen. Daran konnten weder die Reform der russischen Polizei, die Wirtschaftskrise oder die Zigtausend Überwachungskameras und elektronische Zugangskarten etwas ändern. 

Ein leichter Job

Bei der Zahl der Polizisten belegt Russland weltweit den ersten Platz. Mit deutlichem Abstand folgen die Türkei mit 250 000 Polizeibeamten sowie die USA und Deutschland. Dennoch gab es in Russland vor zwei Jahren mehr Sicherheitsleute als Polizisten. Eineinhalb Millionen Menschen beziehungsweise zwei Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung waren in den entsprechenden Firmen laut Statistik von Polizei und Gewerkschaften beschäftigt.

Die vermeintliche Attraktivität des Jobs hat zwei Ursachen: Wachmann zu werden ist erstens leicht und zweitens billig. 70 Stunden Ausbildung in einer Sicherheitsschule reichen völlig aus. Danach muss man eine Prüfung im Beisein eines Polizisten ablegen und seine Fingerabdrücke abgeben. Nach etwa zwei Monaten Wartezeit erhält man einen Security-Ausweis.

In Moskau kostet das Ganze 10 000 Rubel, etwa 150 Euro. Hinzu kommt noch ein Waffenschein, für den man etwa 70 Euro bezahlen muss. In den Regionen sind die Preise deutlich niedriger. Deshalb ist Wachmann der ideale Nebenjob für Studenten und für Rentner. Dazu kommen flexible Arbeitszeiten und eine minimale körperliche Belastung. Wer nicht bei einer Sicherheitsfirma angestellt ist, sondern direkt zum Beispiel bei einem Supermarkt, benötigt nicht mal eine Lizenz. Allerdings darf er keine Waffe tragen.

Ein Relikt aus den Neunzigern

Die Mode, alles zu bewachen, ist in den Neunzigerjahren entstanden, als erstmalig Privateigentum entstand. Zudem wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Tätigkeit von Sicherheitsfirmen regelt. „Mit dem Aufkommen von Privateigentum wurde es notwendig, dieses auch zu bewachen. Das Tragen von Handfeuerwaffen wurde weitgehend legalisiert“, erinnert sich Swetlana Ternowa vom russischen Innenministerium. Damals seien viele ehemalige Polizisten die wegen der Reformen aus dem Polizei-Dienst entlassen worden waren, zu den Sicherheitsfirmen gewechselt.

Heute ist der Wunsch nach totaler Sicherheit relativ. Die meisten Wachleute haben kein Recht darauf, eine Waffe bei sich zu tragen, und auch nur ganz wenige Befugnisse. Sie sind bereit, für kleines Geld zu arbeiten: Zwischen elf und 35 Euro verdient ein Wachmann pro Schicht.

Wirkung wie eine Vogelscheuche

Der Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin, Professor an der Universität Chicago und der Hochschule für Wirtschaft in Moskau, erklärt die Wachmann-Manie in Russland mit der unzureichenden Arbeit der Polizei und deren niedriger Produktivität. „In den USA gibt es in Restaurants und Cafés keine Wachleute, weil die Kellner dort, auch dann, wenn sich beispielsweise jemand danebenbenimmt, jederzeit die Polizei rufen können.

In Russland hingegen sei es für einen Ladenbesitzer günstiger, sich einen Wachmann zu halten, als sich auf die Polizei zu verlassen. „Wenn es irgendwann mal keine Wachleute mehr in russischen Supermärkten und Restaurants gibt, dann ist der Punkt erreicht, dass die Polizei ordentlich arbeitet“, kommentiert Sonin.

In Anbetracht der großen Zahl der Wachleute wäre es nur logisch, wenn Russland eines der sichersten Länder der Welt wäre. Dem ist jedoch nicht so. Laut den Experten des Weltwirtschaftsforums belegt Russland diesbezüglich den Platz 109 von 136 untersuchten Ländern.

„Ein Wachmann muss halt einfach sein, so ist nun mal unsere Mentalität“, meint Leonid Wedenow vom russischen Innenministerium. Auch wenn der Wachmann kaum mehr Rechte habe als ein Normalbürger, sei seine Präsenz ein wichtiger psychologischer Faktor. „Er bietet vielleicht keinen wirklichen Schutz, aber seine Anwesenheit ist immerhin eine Abschreckung. Das ist mit einer Vogelscheuche auf einem Feld vergleichbar.“ 

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