Dreharbeiten zum russischen Blockbuster „Stalingrad“, rechts auf dem Bild Regisseur Fjodor Bondartschuk. Foto: Kinopoisk.ru
Im Februar werden in Berlin Berlinale-Bären und in Los Angeles Oscars verliehen. Bekommt „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew den Oscar für den besten ausländischen Film, wird der Film „Unter Stromwolken“ von Alexej German in Berlin ausgezeichnet, wird man sicherlich vom großen Erfolg des russischen Kinos sprechen. Wird es nicht passieren, werden wohl einige Filmkritiker die Situation im russischen Kino als krisenhaft bezeichnen. Durchbruch und Krise. Erfolg und Stagnation. In Wirklichkeit ist die russische Filmindustrie so ambivalent, dass beide Thesen irgendwie stimmen. Je nach Perspektive, je nach den Kriterien. Doch alles der Reihe nach.
Im europäischen Vergleich schneidet der russische Kinomarkt statistisch gesehen gar nicht schlecht ab: So gibt es in Russland 40 Millionen Kinobesucher pro Jahr mehr als in Deutschland (170 Millionen in Russland gegen 130 Millionen in Deutschland). Der Umsatz der Filmtheater in Russland entspricht ungefähr den deutschen Werten ca. eine Milliarde Euro im Jahr. Der Marktanteil der einheimischen Filme ist in Deutschland etwas größer - 26 % gegen 18 % in Russland. Dominiert wird der Markt in beiden Ländern von den Hollywood-Produktionen.
Man muss zugeben: Russische sowie sowjetische Filme waren nie internationale Kassenhits. „Bei uns ist es ein glücklicher Einzelfall, wenn ein russischer Film überhaupt die Staatsgrenze überquert und einen beschränkten Verleih im Ausland findet. Noch nie gab es die Situation, dass ein russischer Film 100 bis 200 Millionen Dollar im internationalen Verleih kassierte“, meint der wohl bekannteste russische Produzent Aleksandr Rodnjanskij. Dennoch schaffen es einzelne russische Filme, im Lande die 50-Millionen-Dollar-Marke zu durchbrechen, so auch der Streifen „Stalingrad“ von Fjodor Bondartschuk.
Doch das war vor der Krise. Die Folgen der rasanten Schwächung des Rubels sind
nicht berechenbar. Russland hat es in den vergangenen Jahren geschafft, vor
allem in Millionenstädten eine moderne Kinoinfrastruktur aufzubauen, die
allerdings eher amerikanische Blockbuster als europäische Autorenfilme bedient.
Momentan gibt es aber trotz der unsicheren Zeiten keine Anzeichen dafür, dass
Russen massenweise auf die Kinobesuche verzichten würden. In den traditionell
langen russischen Weihnachtsferien haben die Kinos in diesem Jahr zehn Prozent
mehr Umsatz gemacht als im Vorjahr.
Gefährlicher als die Krise scheinen manche staatliche Initiativen – so wie das Gesetz gegen den Gebrauch von Schimpfwörtern. Viele Filme, besonders junge, freche, provokative Werke der jungen Filmemacher - wie „Kombinat Nadezhda“ von Natalia Meschtschaninowa, ein Super-Erfolg beim Filmfestival in Rotterdam - haben laut Gesetz keine Chance, in russischen Kinos gezeigt zu werden. So steckt jeder russische Filmemacher jetzt in dem Dilemma, den eigenen Film ausschließlich für Festivals zu produzieren oder ihn durch Eigenzensur „kindergerecht“ zu machen.
Ein weiterer möglicher, nicht weniger fataler Schritt ist die Quoteneinführung
für russische Filme. Noch diskutiert man darüber, die Entscheidung ist nicht
getroffen. „Bei der 50%-Quote werden alle russischen Filmtheater nach einem
Monat dicht gemacht. Bei der 30%-Quote werden wohl manche Kinos überleben,
zumindest für ein paar Jahre“, sagt Produzent Sergej Seljanow. Die Quoten
wären ein harter Schlag für die Industrie und werden wohl nur eintreten, wenn
der antiwestliche Kurs härter wird.
Dennoch hat Russland „weltoffene, aber patriotische Zuschauer“, wie es der
Filmkritiker Iwan Kudrjawzew formuliert. „Der Zuschauer akzeptiert es nicht,
wenn das einheimische Produkt komplett durch das ausländische ersetzt wird“,
meint er. Der Markt braucht russische Filme.
Interessant, dass ausgerechnet im Jahr des Schimpfwortgesetzes die russische Kinoindustrie durch neue starke Namen erstmal richtig „sozial“ wurde. „Die Korrekturklasse“ von Iwan Twerdowski (umjubelt beim 24. Filmfestival des osteuropäischen Films in Cottbus), wo die Förderklasse in einer russischen Schule für die auf einen Rollstuhl angewiesene Lena zur Hölle wird, das schon erwähnte „Kombinat Nadezhda“, ein verbittertes Porträt einer Provinzstadt im Norden Russlands, und nicht zuletzt „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew, erster Golden-Globe-Award für einen russischen Film seit 1969 und ein heißer Oscar-Kandidat.
Kein Regisseur seit Nikita Michalkow schaffte es so weit nach oben wie Andrej Swjaginzew. Sein Werk ist in Russland umstritten: für die einen Metapher, lupenreiner Realismus für die anderen. Doch selbst Kulturminister Vladimir Medinskij, ein Anhänger patriotischer Kostümdramen, hat vor Kurzem erklärt, dass er sich über den Erfolg von „Leviathan“ in Europa freut. Auch wenn er die Darstellung der Kirche im Film „unterirdisch“ findet. Da das russische Kulturministerium den Film mitfinanziert hat, darf der Minister das auch als eigenen Erfolg bewerten. „Ich hoffe, dass der sehr begabte Andrej Swjaginzew das nächstes Mal einen Film mit unserer Unterstützung ohne diese existentielle Hoffnungslosigkeit kreiert“, so Medinskij.
Eine weitere positive Entwicklung: Russische Mainstream-Projekte haben eine Qualität erreicht, die auch Kritiker überzeugt. So schaffte es der Film „Bittersüße Hochzeitsküsse“ von Zhora Kryzhownikow, ein Kassenhit mit 25 Millionen US-Dollar Einnahmen und Produktionskosten von nur 1,5
Millionen, im vergangenen Jahr in mehrere Top-Listen der angesehensten Kritiker. Eine Hochzeits-Komödie im Home-Video-Stil, ganz souverän und skrupellos gemacht, hat für viele russische Zuschauer ihr Land neu entdeckt. Ein weiteres Phänomen war die Serie „Sportlehrer“ ("Fisruk") auf dem TNT-Kanal. Diese Sitcom über einen Gangster-Lehrer, quasi die russische Antwort auf den deutschen Kinohit „Fack ju Göhte“, schaffte es, amerikanischen Streifen Konkurrenz zu machen.
Ob wirtschaftliche Krise oder ein undurchsichtiges System der Staatsfinanzierung – letztlich wird in Russland ein paralleles System aufgebaut, das jungen Autoren starke Debüts ermöglicht. Patriotische Initiativen des Kulturministeriums beschränken die künstlerische Freiheit, doch gleichzeitig wird der systemkritische Film „Leviathan“ mit Staatsgeldern unterstützt. Das Land isoliert sich und wird gleichzeitig für die Außenwelt immer interessanter. Russland bleibt ein Kinoland.
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