Ernst Neiswestny gehört zu jenen Künstlern, für die nicht nur ihre Werke und ihr Stil sprechen. Vielmehr ist seine Biografie ein Zeugnis der Dramatik, die sich in seinen Werken widerspiegelt. Sein Großvater war Kaufmann, sein Vater ein Offizier des zaristischen Russlands. Dem Künstler haftet also eine Familiengeschichte an, die ihn in der Sowjetunion durchaus gefährlich leben ließ.
Im Zweiten Weltkrieg wird Neiswestny, so sagt er, auf dem Weg an die Front zum Tode verurteilt, weil er einen Rotarmisten tötet, der seine Freundin schändete. Zwei Monate wartet er auf die Vollstreckung. Die Todesstrafe wird ausgesetzt und er muss ins Strafbataillon, an die vorderste Front. Gegen Ende des Krieges wird er verwundet, seine Wirbelsäule ist schwer verletzt. Eine Zeit lang denkt man, er sei tot.
Im Jahr 1955 wird Neiswestny zum Mitglied der Bildhauer-Sektion der Moskauer Künstler-Union (MosKU) und nimmt 1962 an der berühmt-berüchtigten Ausstellung „30 Jahre MosKU“ teil. Er ist gleich doppelt auf der Ausstellung vertreten. Seine Werke werden im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft „Die neue Realität“ des Künstlers Elij Beljutin ausgestellt, ohne dass er Mitglied gewesen wäre, und sind auch in der eigentlichen MosKU-Exposition zu sehen.
Während der Ausstellung beschimpft der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow die anwesenden Künstler. Sie wird zu einem Meilenstein enttäuschter Hoffnungen an das „Tauwetter“, die die Künstler nach dem Tod Stalins ergriffen hatte. Als Chruschtschow Neiswestny in Anwesenheit anderer Künstler direkt attackiert, geht der impulsive Bildhauer darauf ein, antwortet und kann Chruschtschow hinsichtlich seiner Werke in gewisser Hinsicht sogar überzeugen.
Das Verhältnis zwischen dem Künstler und dem Regierungschef ist ein ganz besonderes. Neiswestny ist Kriegsveteran, irrtümlicherweise „post mortem“ mit dem Roten-Stern-Orden ausgezeichnet, und spricht mit Chruschtschow wie ein einfacher Werktätiger – ein Mensch, bei dessen Bildhauerkunst es sich um harte körperliche Arbeit handelt. Die Worte Chruschtschows sind teilweise so geschmacklos, dass man sie in der russischen Presse heute nicht mehr veröffentlichen dürfte.
Einmal nennt er Neiswestny einen Homosexuellen, was sich dieser nicht gefallen lässt: „Geben Sie mir jetzt eine Frau und ich zeige Ihnen, was für ein Homosexueller ich bin.“ Das Spannungsverhältnis von Kunst und Macht dominiert Neiswestny derart, dass Andy Warhol – ein Freund des Bildhauers – später beeindruckt sagt: „Chruschtschow ist ein mittelmäßiger Politiker aus der Epoche des Ernst Neiswestny.“
Das Chruschtschow-Grabmal auf dem Nowodewichje-Friedhof in Moskau. Foto: Wladimir Akimow/RIA Novosti
Bezeichnend, dass ausgerechnet Neiswestny später das Grabmal Chruschtschows auf dem Nowodewichje-Friedhof in Moskau entwirft. Weiße Blöcke von einer Seite, schwarze von der anderen – als ob sie ineinander wachsen, einander ungeachtet des Kontrasts stützen – und dazwischen liegt der Kopf Chruschtschows.
1976 verlässt der Künstler seine Heimat, seit 1977 lebt er in New York. Der berühmte konzeptionelle Künstler Ilja Kabakow schreibt über Neiswestny, dass dieser „sich gleichzeitig im offiziellen und im nicht-offiziellen Raum bewegte“. Gemeinsam mit anderen sogenannten nicht-offiziellen Künstlern ist er, wie auch Kabakow, Mitglied der Gruppe Sretenskij Boulevard. Der Name ist naheliegend – in diesem Stadtteil befinden sich die Ateliers der Künstler.
Neben kleineren Werken schafft Neiswestny auch eine Reihe von Monumentalbauten. So meißelt er 1966 die 150 Meter hohe Statue „Den Kindern der Welt“ im Pionierlager Artek auf der Krim. Von 1968 bis 1971 entwirft er das 75 Meter hohe Monument an die Völkerfreundschaft – die „Lotusblüte“ auf dem Assuan-Staudamm in Ägypten. 1957 kreiert Neiswestny die „Nukleare Detonation“, 1996 ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus in Magadan. Regelmäßig arbeitet er zudem an seinem bereits 1956 begonnenen Projekt „Lebensbaum“.
All seine Werke ziehen ihre Wirkung aus der Macht des Materials, aus einem inneren Kampf, durch das Gesicht, den Antlitz, die Maske. Deswegen bevorzugt er wohl grobe Kanten: Sie sind Ausdruck einer monumentalen Verallgemeinerung, eine Silhouette von Emotion. Sein Charakter spiegelt sich sowohl in seinen Illustrationen zu Dostojewskis „Schuld und Sühne“ aus dem Jahr 1970 wieder als auch in dem mächtigen „Großen Zentaur“, der 1997 vor dem europäischen UN-Sitz in Genf aufgestellt wird. Dass für seine Kunst Größe nicht unbedingt von Bedeutung sein muss, zeigt seine kleine Orpheus-Statue, Symbol des russischen Fernsehpreises Tefi. Neiswestny entwarf auch Kruzifixe, die im Vatikan aufbewahrt werden.
Seine Werke sind zudem in eigenen Museen ausgestellt, im Museum Lebensbaum in Uttersberg und in einem Museum in seiner Heimatstadt Jekaterinburg. Er, den ein russischer Regierungschef einst angegriffen hatte, wird Jahre später mit dem Verdienstorden für das Vaterland dritten Grades ausgezeichnet und 2014 zum „Menschen des Jahres im russischsprachigen Amerika“ gewählt. In einem Interview sagte Ernst Neiswestny einst, dass ein Künstler „seine Seele gestalten“ müsse. Seine mächtigen Skulpturen zeigen auch das.
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