Wiktor Zoi.
Alexander Chumichev; Alexander Shogin/TASSAls Protest oder Manifest war „Assa“ wirklich nicht gedacht. Als Sergej Solowjow auf der Moskauer Premiere seines Films „Die fremde Weiße und Gefleckter“ sah, wie Soldaten herbeikommandiert werden, um den leeren Kinosaal zu füllen, schwor sich der Regisseur, einen Kassenschlager zu drehen – sein Film sollte ein Vergnügen sein, zu dem niemand gezwungen werden muss. Also griff er auf das bewährte Rezept des in der Sowjetunion damals sehr beliebten Hindi-Films zurück: ein Liebesdrama mit einem Überfluss an Tanz und Musik.
In der Tat steht „Assa“ auf den ersten Blick in der guten, alten Bollywood-Tradition. Die schöne Krankenschwester Alika – eine sowjetische Annie Hall – kommt mit ihrem Liebhaber, dem Mafioso Krymow, ins winterliche Jalta an der Schwarzmeerküste der Krim. Bald verliebt sie sich in den armen Musiker Bananan. Dieser bewacht tagsüber das Restaurant, in dem er abends singt. Von Eifersucht getrieben ordnet Krymow seine Handlanger an, Bananan aus dem Weg zu schaffen. Als Alika davon erfährt, erschießt sie ihren eifersüchtigen Liebhaber – übrigens mit einer Pistole, die plötzlich einfach da ist. So weit also verläuft alles gemäß dem Genre: Armut und Reichtum, Liebe und Tod, Tanz und Musik. Außerdem kommen Kleinwüchsige, KGB-Agenten, Pseudo-Kosmonauten und sogar Zarenmörder in dem Film vor. Im Fokus aber steht ganz eindeutig – die Musik.Sergej Solowjow. Foto: Mikhail Fomichev/RIA Novosti
Russische Rocker – Aquarium, Kino, Bravo – in den Achtzigern auf der großen Leinwand zu erleben, war für die Fans, die die Aufnahmen ihrer Stars voneinander kopierten, eine Bombensensation im wahrsten Sinne. Damals konnten die Underground-Musiker höchstens mit ein paar hundert Menschen in einem Mini-Saal eines lokalen Kulturhauses rechnen. Solowjow aber gab den Bands eine Bühne mit einem Millionenpublikum.
Das ganze Land hörte nun die Hits von Boris Grebenschtschikow und Wiktor Zoi. Unverändert bleiben konnte die Sowjetunion danach nicht mehr. Solowjow hatte einen kolossalen Schub frischer Energie freigesetzt, eine Rock-Welle, die nicht mehr aufgehalten werden konnte. Die Schallplatte zum Film war eine der ersten offiziellen Veröffentlichungen des russischen Rocks und die Filmvorstellung eine in der UdSSR noch nie dagewesene grandiose Show.
Stanislaw Goworuchin und Tatjana Drubitsch in "Assa". Foto: TASS
Im Frühjahr 1988 brach im Kulturhaus der Moskauer Elektrolampenfabrik eine echte Kulturrevolution aus: Drei Wochen lang – vom 25. März bis 17. April – erschallte dort die „Assa“-Vorstellung, von den Organisatoren als Art-Rock-Parade bezeichnet. Die ganze Zeit hindurch war das Kulturhaus von sowjetischer Miliz umzingelt. Tagelang standen die Fans für Tickets an. Im Foyer fanden alternative Modeschauen statt, sowjetische Avantgardisten stellten unter dem Motto „Die neue Malerei der Achtziger“ auf mehreren Etagen ihre Werke aus und rundherum wurde rege mit T-Shirts und Handtaschen mit der „Assa“-Symbolik gehandelt – auch im Merchandising revolutionierte der Film die UdSSR.
Danach traten die besten Rocker des Landes auf – Aquarium, Kino, Alissa. Und erst dann wurde der Film gezeigt. Von Moskau aus eroberte die Parade das ganze Land. Bis zur offiziellen Premiere des Films begrub die Rockwelle die Sowjetunion unter sich.
Im Epilog des Films erscheint das russische Rock-Idol der achtziger Jahre: Wiktor Zoi. In seiner Rolle bewirbt er sich um den Sänger-Job des verstorbenen Bananan. In der Schlussszene wird das Restaurant, in dem Zoi seinen Hit „Wir warten auf Veränderungen“ vorsingt, zu einer Riesenkonzerthalle: Zehntausende kamen als Statisten, um Zoi live zu erleben. Die meisten von ihnen halten Feuerzeuge hoch. Eine Assoziation mit der Aussage des Romantikers Bananan ist hier unvermeidbar: „Wenn jeder von uns ein Streichholz anzündet, wird der halbe Himmel erhellt.“
Die Veränderungen ließen nicht lange auf sich warten. Zwei Jahre nach „Assa“ versammelte Zois Gruppe Kino im Moskauer Olympiastadion keine zehn-, sondern siebzigtausend Fans. Nur ein Jahr später – vielleicht auch auf den Willen des russischen Rocks hin – zerfiel die Sowjetunion.
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