Etwa zeitgleich mit der Gründung des Sojusmultfilm-Studios in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts lernte der herausragende Reformator der Weltkinematografie, Sergei Eisenstein, einen anderen renommierten Genius, Walt Disney, kennen.
In einem Artikel erinnerte sich der sowjetische Regisseur an Disney: „Die Tiere, Fische, Vögel Disneys haben die Angewohnheit sich zu strecken und zusammenzuziehen. Dieser Ausruf von Optimismus konnte nur gezeichnet werden. Denn es gibt keinen Winkel des real gefilmten Kapitalismus, der ohne zu lügen zu einer optimistischen Bestätigung werden könnte! Zum Glück aber gibt es Linien und Farben. Musik und Trickfilm. Disneys Talent und den großen Trostspender – den Kinematografen.“
Im Zweiten Weltkrieg wird der große Trostspender zum großen Propagandisten. Der Trickfilm ist dafür ideal: man kann den Feind so monströs und grotesk darstellen, wie man will. 1941 zeichnen die Sowjets den Agitationsfilm „Was will Hitler“. 1943 erscheinen Disneys groteske Abenteuer Donald Ducks im Dritten Reich. Natürlich will er das Land den Großgrundbesitzern und die Fabriken den Kapitalisten zurückgeben. Was er bekommt, ist ebenfalls klar: den Tod durch sowjetische Bajonette.
Nach dem Krieg nahm der Zeichentrick wieder seine Unterhaltungsfunktion wahr. In den 1940ern bringt Metro-Goldwyn-Mayer das weltberühmte Katz-und-Maus-Spiel auf die Leinwand. Jedes Kind weiß seitdem, wie schwierig die Beziehungen zwischen Katzen und Mäusen sein können. Anfang der Achtziger erlangt das Cartoon auch in der Sowjetunion große Berühmtheit. In der Zeit kommen Videorecorder in den Umlauf, Heimkino wird möglich. Doch sowjetische Zuschauer kannten bereits etwas Ähnliches: statt der Katz und der Maus jagten sich im sowjetischen Fernsehen ein Wolf und ein Hase.
Nicht nur Disneys Studios waren eine Inspirationsquelle für den sowjetischen Trickfilm. Hier ist der englische Dr. Dolittle nach dem Roman von Hugh Lofting von 1970 vs. Doktor Aibolit nach dem Märchen von Kornei Tschukowski aus dem Jahr 1984.
Ein anderes Beispiel: Der Hauskobold Kusja (1984), offensichtlich ein naher Verwandter des 1962 im deutschen Fernsehen geborenen Pumuckls.
Eine echte Erfolgsstory des sowjetischen Trickfilms ist „Winnie-Puuh“. Wer hätte es gedacht, dass die 1969 ausgestrahlte Geschichte das beliebteste des russischen Publikums werden wird. Manche Aussagen der Trickfiguren sind inzwischen zu feststehenden Ausdrücken im Russischen geworden. Zu verdanken haben es die Russen der hervorragenden Übersetzung des Märchen Milnes von 1926 durch Boris Sachoder, der Glanzleistung des Trickfilmregisseurs Fjodor Chitruk und des gesamten Sojusmultfilm-Studios.
Vergleichen Sie den Disney-Film von 1991 nach den Motiven des gleichnamigen Romans von Charle Perrault mit dem sowjetischen Zeichentrickfilm von 1952, welcher auf Grundlage eines Märchens Aksakows aus dem Jahr 1868 entstand. Das russische Märchen griff seinerseits Perraults Motive auf. Insofern verwundert die Ähnlichkeit verschiedener Zeichentrickfilme nicht. Die Märchen der Völker, wie auch ihre Mythen, beziehen sich eben aufeinander. Wir haben also mehr Gemeinsamkeiten, als uns auf den ersten Blick bewusst ist.
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