Waleri Gergijew führt einst verschollenes Stück von Igor Strawinsky auf.
Mikhail Metzel / TASSEin russisches Sprichwort besagt: Ein Umzug ist genauso schlimm wie zwei Brände. So ähnlich muss man sich vor anderthalb Jahren im Sankt Petersburger Musikkonservatorium gefühlt haben, als man die historischen Räume am Theaterplatz wegen einer Renovierung wortwörtlich über Nacht verlassen musste. Am meisten soll allerdings die Bibliothek des Konservatoriums gelitten haben: Wertvolle Dokumente, die man seit Jahrhunderten gesammelt hatte, mussten weggeschafft werden. Bei den Räumungsarbeiten stieß die Bibliothekarin Irina Sidorenko in einem der unzähligen Schränke auf einen Haufen alter Orchesterstimmen. Laut dem Register wurden sie bereits 1951 vernichtet, das heißt als Papiermüll entsorgt. Zum Glück geriet Sidorenko damals nicht in Umzugspanik.
Nächstes Jahr feiert man den 135. Geburtstag Igor Strawinskys. Ohne ihn kann man sich die moderne Musik kaum vorstellen. Weltberühmt ist er bereits zu seiner Jugendzeit geworden: In den 1920er-Jahren komponierte er im Auftrag des Impresarios Sergei Djagilew Stücke, die die Musikwelt auf den Kopf stellten und sich stark von alten Traditionen unterschieden.
Als Sohn eines bekannten Tenors aus dem Mariinski-Theater wurde Strawinsky bereits als junger Mann eine große Zukunft vorhergesagt. Jeder Schritt, gar jedes Wort, und natürlich jedes Tonzeichen schien von seinen Zeitgenossen dokumentiert worden zu sein.
Und so war es auch: Dank der ausführlichen Chronik seines Schaffens wissen wir, dass Strawinsky 1908 das Klagelied op. 5 komponierte. Das Stück erinnerte an den Komponisten und seinen Lehrer Nikolai Rimsky-Korsakow, der Strawinsky privat in der Kunst der Komposition unterrichtete, nachdem der junge Musiker eine Prüfung im Konservatorium nicht bestanden hatte. Strawinskys Wunsch war es, das Stück in ein Konzert zum Andenken an den Komponisten aufzunehmen. Die Idee stieß allerdings auf großen Widerstand seitens der Veranstalter. Die Bedeutung des Klageliedes für Strawinsky kann man daran erkennen, dass er sich nach der Absage an Frau und Sohn Rimsky-Konsakows wandte und letztendlich eine Zusage bekam. Das Klagelied wurde im Rahmen des Ersten Russischen Symphoniekonzerts zum Andenken an Rimsky-Konsakow im Großen Saal des Sankt Petersburger Konservatoriums aufgeführt.Dies geschah allerdings anderthalb Jahre vor dem Triumph des Balletts „Der Feuervogel“ in Paris. Danach folgten andere wichtige Stücke wie „Petruschka“ und „Le sacre du printemps“, dank denen Strawinsky zu einem der berühmtesten Komponisten in der Welt der klassischen Musik wurde.
Das zwölfminütige Klagelied wurde danach nie wieder aufgeführt und nach den Turbulenzen der Pariser Zeit, des Ersten Weltkrieges, der Revolution und des Bürgerkrieges in Russland wurde es vom Komponisten selbst für verloren gehalten. Strawinsky vermisste das Stück und bat seine Freunde, die Partitur in Sankt Petersburg zu suchen. Für den Komponisten war das Klagelied nach dem „Feuervogel“ sein zweitwichtigstes Werk.
Braginskaja stellte die wiederentdeckten Stimmen für ein internationales Gutachten zur Verfügung. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposiums und unter der Schirmherrschaft der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft zeigte sie die Titelseite des Stückes sowie die Orchesterstimmen mit Notizen der Musiker und erklärte andere Merkmale. Aus den Orchesterstimmen wurde eine Partitur erstellt. Das Klagelied für drei Symphonieorchester wird nun erstmals vom Orchester des Mariinski-Theaters aufgeführt. Geleitet wird die Aufführung von Walerij Gergiejew, auf dessen Initiative auch das kommende Jahr zum Strawinsky-Jahr ernannt wurde. Im Konzert wird zudem die Suite aus der Oper Rimski-Korsakows „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch“ aufgeführt.
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