"Proletarier aller Länder, vereigint euch!!" von El Lissitsky (Lasar Lisitsky) / RIA Novosti
Eine romantische Legende besagt: Die Revolution in der Kunst habe die Revolution in der Politik beschleunigt. Die russische Avantgarde – auf der Suche nach neuen Formen die alten Dogmen verwerfend – hatte sich als derart einstimmig mit der Russischen Revolution erwiesen, dass sie für mehrere Jahre zu ihrem wichtigsten Sprachrohr wurde.
Ihren Anfang nimmt die Geschichte der russischen Avantgarde nach allgemeinem Verständnis im Jahr 1908. Damals fanden in Moskau und Sankt Petersburg Ausstellungen statt, auf denen die jungen Kunstketzer Lentulow, die Brüder Burljuk, Larionow und Gontscharowa erstmals von sich Reden machten. In den darauffolgenden neun Jahren, die bis 1917 noch blieben, entwickelte sich die Avantgardebewegung in rasantem Tempo.
Viele Avantgardekünstler fassten die Revolution mit großer Begeisterung auf. Ihre künstlerischen Ideen standen unerwartet echoartig im Einklang mit den politischen Losungen. So wurde in den ersten politischen Beschlüssen auch ein von der Gegenständlichkeit losgelöster Vorschlag Kasimir Malewitschs umgesetzt. Dieser hatte hinsichtlich der vorrevolutionären Ordnung gefordert, alle Bilder zu verbrennen und in den Museen ihre Asche auszustellen, weil es nach dem Suprematismus keine andere Malerei mehr geben werde.
Der neue Staat brauchte zudem neue Formen: stark, schrill, der Zukunft zugewandt. Die Avantgarde nahm diese Nische mit Leichtigkeit ein. Zugleich wurde die neugegründete Sowjetunion zum größten Auftraggeber und – obwohl die Künstler diesen Aspekt nicht gleich erkannten – auch zum größten Zensor von Kunstwerken.
Gleich in den ersten Monaten nach der Revolution wurden die Avantgardisten zur Gestaltung neuer Feierlichkeiten des Sowjetstaates herangezogen. Die Panneaus, die die Hauswände in Moskau und Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, schmückten, waren echte Meisterwerke monumentaler Malerei, die leider nicht erhalten blieben. Sie alle waren neuen Symbolen und neuen Menschen gewidmet: den Arbeitern und Kolchosbauern. Die Futuristin Olga Rosanowa gestaltete 1918 den neuen offiziellen Feiertag, den Tag der Internationale am 1. Mai, der später zum Tag der Arbeitersolidarität wurde. Sie setzte ihr Konzept der abstrakten „Farbenmalerei“ in der Festbeleuchtung und den Feuerwerken um.
Skizze für den Palast-Platz von dem Maler Nathan Altman (1889-1970) im Staatlichen Russischen Kunstmuseum in St. Petersburg. / Rudolf Kucherov/RIA Novosti
Und am ersten Jahrestag der Revolution verpackte Natan Altmann die Seitenflügel der Eremitage in rotem Tuch – erst 80 Jahre später wurde die gleiche Installation Christos am deutschen Reichstag zur Weltsensation – und schmückte die Alexandersäule inmitten des Palastplatzes mit suprematischen Figuren. So avantgardistisch wie in den ersten postrevolutionären Jahren sahen Moskau und Sankt Petersburg wohl weder vorher noch nachher je aus.
Der nächste Schritt im Dienste der Propaganda war der Print: Bücher, Zeitschriften, Plakate. Die Kunststile des Kubofuturismus, Konstruktivismus und Suprematismus mit ihren einfachen Formen und klaren Strukturen waren wie geschaffen für die neue Zeit. El Lissitzkys Plakat von 1920 „Schlagt die Weißen mit dem roten Keil“ ist das perfekte Beispiel dafür, wie eine suprematische Komposition von politischem Sinn erfüllt werden kann.
El Lissitzky / Van Abbemuseum
Ein weiteres Bilderbuchbeispiel neuer Polygrafie ist Alexander Rodtschenkos Werbeplakat von 1924. Es ruft dazu auf, Bücher des Lengis-Verlages zu kaufen. Großaufnahmen, scharfe Blickwinkel und raumschneidende Diagonalen, die zum Aushängeschild der konstruktivistischen Fotografie Rodtschenkos wurden, verwandelten die Werbung in ein zeichnerisches Meisterwerk.
Im utopischen Impuls zur Verwandlung von allem und jedem entstand die Idee, nicht nur durch monumentale Kunst auf den Menschen einzuwirken, sondern eine neue sichtbare Welt für ihn zu erschaffen, ihn im Alltag mit modernen Dingen zu umgeben. Daraus entwickelte sich das sowjetische Industriedesign.
"Zeichnung für Panzer" von Warwara Stepanowa, 1924 / aus einer privaten Sammlung
Die Amazonen der Avantgarde, Warwara Stepanowa und Ljubow Popowa, schufen ein neues Stoffdesign für eine Textilfabrik, die vorrevolutionäre Muster ablösen sollte. Der billige Kaliko, der massenweise für die Kleiderherstellung produziert wurde, erhielt ein abstraktes geometrisches Ornament mit kontrastreichen Farben. Stepanowa entwarf zudem „Produktionskleidung“ unter Berücksichtigung der Besonderheiten konkreter Berufszweige. Geometrische Formen, Unisex und bloß keine Verzierungen – das waren ihre Prinzipien.
Das Avantgarde- und Agitationsporzellan ist ein einzigartiges und auf dem heutigen Kunstmarkt gefragtes Phänomen, hergestellt in der ehemaligen Kaiserlichen Porzellanmanufaktur. Die Arbeit der Fabrik wurde in den gigantischen Plan der monumentalen Propaganda einbezogen, ihre Waren gingen größtenteils in den Export. Kasimir Malewitsch dachte sich mit seinen Schülern Nikolai Sujetin und Ilja Tschaschnikow neue Teekannen und Tassen in suprematischen Formen aus. Daraus zu trinken war unbequem, dafür aber sahen sie spektakulär aus.
Alexander Rodchenko, der Pionier der "kantigen" Fotografie / Press Photo
Weitverbreitet waren Teller mit neuen Losungen, an denen Künstler arbeiteten, die vor der Revolution bei russischen und französischen Modernisten gelernt hatten: Alexandra Schtschekotichina-Potozkaja und Sergej Tschechonin. Vielfach griff die Bemalung alte Muster auf, neu waren nur die Sujets.
Dafür kamen in der Bildhauerei echte Meisterwerke der Revolution zustande: „Die Roten und die Weißen“ etwa, Schachfiguren aus Porzellan von Natalia Danko, bei denen rote Bauern mit Sicheln sowie Rotarmisten und Arbeiter mit Hämmern gegen den weißen Tod und seine in Ketten gelegte Sklaven ins Feld zogen.
Der architektonische Ausdruck revolutionärer Ideen war der Konstruktivismus. In den ersten Jahren nach der Revolution, während des Bürgerkrieges, gab es für den Städtebau kein Geld – die meisten Projekte jener Zeit blieben unverwirklicht.
Das geplante "Denkmal der Internationale" / Archive photo
Das berühmteste unter ihnen ist das Denkmal der 3. Internationale, also der Vereinigung kommunistischer Parteien unterschiedlicher Länder, entworfen von Tatlin im Jahr 1919: drei Glasfiguren – ein Würfel, ein Zylinder und ein Kegel – umgeben von einem geneigten Stahlgerüst, die sich einmal pro Jahr, Monat und Tag hätten drehen und so die Zeit der neuen Epoche zählen sollen. Wäre das Denkmal gebaut worden, hätte es den Eiffelturm überragt.
Auch Maler erschufen neue Formen. In den 1920er-Jahren setzte sich die Blütezeit der Künstlervereinigungen fort. Um die großen Figuren der Avantgarde – Malewitsch, Filonow, Matjuschin – entstanden neue Gruppen. Die meisten bisherigen Avantgardegruppen fanden neue Formen des Schaffens. Eine dieser zentralen Gruppen war die Vereinigung der Stankowisten. Sie romantisierte die Wirklichkeit, basierend auf den Ideen der russischen und europäischen Avantgarde. Ihre Symbole: das expressive „Autorennen“ von Peter Williams und die „Verteidigung Petrograds“ von Alexander Deineka.
Die Anfänge der Performance in der USSR, 1924. / Getty Images
Ein anderer künstlerischer Pol war die Vereinigung der Revolutionskünstler, deren Mitglieder die Ereignisse der Gegenwart ohne besonderen ästhetischen Anspruch festhalten wollten.
Porträts von Führern und den unendlichen Parteitage der 1930er-Jahre legten die Grundlage für das Programm des sozialistischen Realismus. Der Sieg der Realisten über die Avantgarde war wohl vorherbestimmt: Schon der Revolutionsführer Wladimir Lenin sprach von der Bedeutung einer Kunst ohne Kniff, in der Inhalt das Wichtigste sei, nicht die künstlerische Form.
Ein Erlass von 1932 zog letztlich einen Schlussstrich unter die ganze Vielfalt der Kunst: Der Beschluss verbot alle Künstlervereinigungen. Vier Jahre später begann der Kampf gegen den Formalismus, der die Überreste der Avantgarde endgültig in den Untergrund verbannte.
"Wer nicht arbeitet, isst nicht", mahnt dieser Teller mit Lenin-Porträt. / J. Jurowskij/RIA Novosti
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