“Gegen Ende des Jahres 1611 schien es, als wäre die Regierung Moskaus nahezu vollständig zerstört. Die Polen hatten Smolensk eingenommen. Polnische Truppen hatten Moskau niedergebrannt und den Kreml erobert, wo sie sich einrichteten. Die Schweden wiederum hatten Nowgorod eingenommen und schlugen einen eigenen Kandidaten für den Thron in Moskau vor. Das Land blieb währenddessen ohne Regierung…“
Die aufrüttelnde Beschreibung der Lage durch den Historiker Wasili Kljutschewski steht im Kontrast zur Position, die das junge russische Reich nur wenige Jahrzehnte zuvor genossen hatte: Es konnte weite Gebiete im Osten erobern und eine Reihe politischer Reformen wurden eingebracht. Doch zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren diese frühen Errungenschaften Iwan des Schrecklichen bereits Vergangenheit. Mit dem Tod des Nachfolgers Iwans ging die Herrschaft der Rurik-Dynastie, die russische Gebiete für sieben Jahrhunderte regiert hatte, zu Ende.
/ Ernest Lissner
Die Unbeliebtheit der Herrscher Russlands nach dem Fall der Rurik-Dynastie trug dazu bei, dass sich der Falsche Dimitri, ein Abenteurer, der sich als Sohn Iwan des Schrecklichen ausgab, an die Macht bringen konnte. Vom Moskauer Adel akzeptiert und von den Polen, damals ein mächtiger Spieler im Europa dieser Zeit, unterstützt, wurde er 1605 zum russischen Zaren ausgerufen.
Der Adel war aber schnell unzufrieden mit dem neuen Herrscher und bereits weniger als ein Jahr nach seiner Krönung wurde er hingerichtet. Daraufhin wählte der Adel einen neuen Zaren aus den eigenen Rängen: Wassili Schuiski übernahm das Amt, seine Autorität wurde aber schon bald von einem weiteren Falschen Dimitri sowie den Polen in Frage gestellt. Nach einigem Ringen sah sich Schuiski gezwungen, ins Kloster zu gehen, und wurde bald darauf an den polnischen König ausgeliefert. Da der Adel Moskaus jedoch größere Angst vor dem zweiten Falschen Dimitri hatte, bat man den Sohn des polnischen Königs, den Moskauer Thron zu besteigen, und lud polnische Truppen in die Stadt ein. Diese internen Machtkämpfe, die den Staat schon seit einigen Jahren lähmten, wandelten sich schließlich in einen Kampf um das Überleben der Nation.
Die hauptsächlich für das Chaos verantwortliche Gruppe sei der Landadel gewesen, sagt der Historiker Dimitri Wolodikhin. Im Russland dieser Zeit habe „der Landadel aus Zehntausenden Männern ohne Chance auf eine Karriere“ bestanden. „Die höheren Schichten in Moskau verhinderten dies. Dieser Zustand bot den perfekten Brennstoff für die verschiedenen Armeen der Hochstapler und Abenteurer“, sagt Wolodikhin.
/ Radischtschew-Kunst-Museum
Es schien, als wäre das Land von den Konflikten des Adels gelähmt. Polen residierten im Kreml und Schweden hatte weite Teile des russischen Nordens annektiert, die niemals zurückgefordert werden sollten. Der Staat aber sollte überleben und die Lösung der Misere entstand an einem unerwarteten Ort.
Unter dem ruinierten Staat habe eine solide Sozialstruktur überlebt, argumentierte der russische Sozialdenker Konstantin Aksakow bereits im 19. Jahrhundert. Die mittleren und unteren Klassen kamen zusammen und nahmen das Heft in ihre eigenen Hände. Kusma Minin, ein Fleischverkäufer, wurde zum Stadtverwalter Nischni Nowgorods, 400 Kilometer von Moskau entfernt, gewählt. Er sollte zu einem der Männer werden, die den Kampf um das Überleben der Nation anführten. Im Jahr 1611 wurde er zum Führer einer Freiwilligenarmee des Volkes ernannt. Es war der zweite Versuch, eine Armee zur Befreiung Moskaus von den Polen zu formen.
Die Truppen wurden ab September zusammengezogen, nachdem Minin eine öffentliche Ansprache gehalten hatte. Er rief seine Mitbürger dazu auf, „ihre Leben nicht zu schonen“ und all ihren Besitz der Befreiung des Landes zu spenden. Minin nahm letztlich eine administrative Rolle bei der Organisation der Armee ein, während Prinz Dmitri Poscharski die Truppen ins Feld führen sollte. Poscharski hatte unter früheren Zaren einige Schlachten gewonnen und war ein beliebter Führer der Zeit.
/ Staatliches Kunstmuseum Nischnij Nowgorod
Die Organisatoren der Freiwilligenarmee sammelten große Geldsummen, zogen mehrere Tausend Soldaten ein und begannen einen langsamen Marsch auf Moskau, während dem sie weitere Soldaten entlang des Weges rekrutierten. Mit einer Truppenstärke von rund 10 000 Mann erreichten sie Moskau schließlich im August 1612. Zeitgleich näherte sich vom Westen auch eine polnische Armee mit rund 12 000 Soldaten der Stadt. Sie wollten die polnische Garnison befreien, die sich zu jener Zeit unter Belagerung der Überreste der ersten Freiwilligenarmee im Kreml verschanzt hatte. Den Soldaten im Kreml ging es schlecht: Ihre Lebensmittelvorräte waren erschöpft und es kam vermehrt zu Kannibalismus.
Die Regimenter der Freiwilligenarmee erreichten das Zentrum Moskaus vor den Polen und nahmen dort ihre Positionen ein. Die polnischen Truppen, angeführt von dem Hetman Jan Karol Chodiewicz, attackierten die russischen Verteidiger am 22. August. Die Schlacht tobte sechs Stunden lang, doch die polnische Armee rund um Hetman Chodiewicz konnte den Kreml nicht erreichen.
/ Tretjakow-Gallerie Moskau
Die finale Schlacht dauerte zwei Tage an. Nach fünf Stunden schwerer Kämpfe im Zentrum Moskaus schafften es polnische Truppen, die Reihen der russischen Armee zu durchbrechen und diese zum Rückzug zu zwingen. Auf diesem Erfolg konnten sie aber nicht aufbauen und erlitten schließlich schwere Verluste. Während sich die Polen zur Erholung zurückzogen, sammelten sich die russischen Truppen und setzten zu einem fanatischen Gegenschlag an. Besonders effektiv war dabei ein unerwarteter Vorstoß Kusma Minins, der von mehreren Hundert Reitern begleitet wurde. Auch die Kosaken erzielten einen entscheidenden Schlag. Legenden zufolge befanden sich die Kosaken im Rückzug, als eine besondere Ansprache des Mönches Awraamij Palitsin sie wiederbelebte. Er versammelte die desertierenden Truppen mithilfe einer Kirchglocke und inspirierte sie mit seinen Worten.
Schließlich konnten die Polen ihre Stellungen in Moskau nicht länger halten und flohen aus der Stadt. Die Schlacht war von der Freiwilligenarmee gewonnen worden. Der Sieg der russischen Bürger besiegelte das Schicksal der Polen im Kreml: Innerhalb weniger Monate gaben auch diese auf. Ein polnischer Chronist schrieb damals, dass die Niederlage alle polnische Hoffnung auf eine Eroberung Moskaus und die Übernahme der Kontrolle über die Regierung für immer begrub. Die Zeit der Wirren sollte im folgenden Jahr mit der Thronbesteigung Zar Michails enden. Er war der Begründer einer neuen Dynastie: der Romanows.
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