In den 1970ern erreichte das Disco-Fieber die Sowjetunion, in den 1980ern wurden sie zu einem Symbol der Lebensfreude. Foto: ITAR-TASS
Heute sind in ganz Russland DJs anzutreffen. Doch es gab Zeiten, in denen sich die Menschen in lange Warteschlangen einreihen mussten, um eine Eintrittskarte zu jenen magischen und unterhaltsamen Orten zu ergattern, die man Diskotheken nannte.
Heute meint man, dass die Menschen in der Sowjetunion eine sehr harte, monotone und ereignislose Lebenswelt erlebten. Doch so schwer das Leben für die sowjetischen Bürger auch gewesen sein mag, hatten sie dennoch gerne Spaß – um sich zu entspannen und zu unterhalten, organisierte man in der Sowjetunion viele Tanzabende.
Sogar unter Stalins hartem Regime tanzten die Menschen in den Städten in offiziellen Kulturklubs oder vor ihren Wohnhäusern, im sogenannten „dwor“, dem Hof oder Garten vor einem Wohnhaus. Vor allem ältere Generationen können sich noch an Sommerabende erinnern, an denen die Leute ihre tragbaren Grammofone mitbrachten und sich die Nachbarn vor dem Wohnhaus versammelten, um beispielsweise zum Song „Rio Rita“, einem zu dieser Zeit populären Ohrwurm, zu tanzen.
Früher ertönte Musik entweder aus mechanischen Plattenspielern oder Akkordeons. Auch Trios waren sehr populär. Schließlich war das Tanzen in der Sowjetunion eine der wenigen offiziell erlaubten Möglichkeiten von Unterhaltung. So kamen in sowjetischen Filmen von 1930 bis 1950 oft auch Tanzszenen vor, wenn sie von der sowjetischen Zensur genehmigt worden waren.
Die westliche Diskothek erreicht die Sowjetunion
Als in den 1970ern weltweit das Disco-Fieber ausbrach, erreichte es auch die Sowjetunion, wobei die ersten Diskotheken zunächst in den baltischen Republiken eröffnet wurden. Die auf westliche Art arrangierten Diskotheken waren unter sowjetischen Bürgern eine willkommene Abwechslung, da sie in diesen Klubs ihre geliebten Tanzabende veranstalten konnten.
Doch auch der Kommunismus fand eine Verwendung für die neuen Tanzklubs. Denn in einem typisch sowjetischen Unternehmen, in dem die Mitarbeiter von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags arbeiteten, waren Betriebsversammlungen für jeden obligatorisch.
Auf diesen Versammlungen wurden ideologisch angehauchte Reden gehalten und Informationen der örtlichen Vorstände der kommunistischen Partei kundgetan. Solche Veranstaltungen wurden früher entweder in Kulturklubs oder in Auditorien organisiert, in denen einige hundert Menschen Platz hatten. Um solche Ereignisse für die Teilnehmer attraktiver zu gestalten, versuchten die örtlichen Parteifunktionäre und ihre Anhänger aus der Nachwuchsorganisation Komsomol, einen Unterhaltungsanreiz am Ende jeder strengen, langweiligen und ideologisch motivierten Veranstaltung zu schaffen. Dabei waren die neuen Tanzklubs die ideale Lösung.
Discos gab es in der UdSSR in allen Formen. Die begehrtesten und ausgefallensten Diskotheken befanden sich in den Bars der Hotelkette Intourist. Sie verfügten über ein modernes Equipment und eine schicke Innenausstattung. Doch durchschnittliche sowjetische Bürger hatten keinen Zutritt zu solchen Hotels und Bars, denn das Privileg, sich unter ausländische Touristen, Prostituierte und eine Armee von verdeckten KGB-Agenten zu mischen, war lediglich Personen vorbehalten, die in der UdSSR hohe Positionen innehatten oder zum ausgewählten Mitgliederkreis der Organisation Komsomol zählten.
Tanzveranstaltungen prangten mit ideologischem Motto
Es dauerte nicht lange, da begannen auch professionelle DJs an diesen gehobenen Orten aufzutreten. Sie wurden nach einer typisch antikapitalistischen Manier ausgebildet, da es in der Sowjetunion keine Unterhaltungsindustrie nach westlichem Muster gab. So auch die Tanzabende: Jede Tanzveranstaltung musste einen offiziellen Titel haben, der genau beschrieb, warum die Menschen hier tanzten.
Zudem sollte der Titel die aktuellen Richtlinien des Zentralkomitees der kommunistischen Partei oder die jüngste Rede von Generalsekretär Leonid Breschnew widerspiegeln. Das heißt, der Tanzabend musste zumindest unter irgendeinem Motto stattfinden, das den sowjetischen Geist der tanzenden Bürger förderte.
So wurden mitunter folgende Mottos für Tanzveranstaltungen gewählt: „Lasst uns die Freundschaft mit unseren lieben Kameraden aus den sozialistischen Ländern auf die nächste Stufe bringen!“, „Tanzt, um eure Körper fit und gesund zu halten!“ oder auch „Tanzabend zu Ehren des Internationalen Frauentags!“Die DJs mussten ebenfalls sehr kreativ sein, um eine Genehmigung für einen Auftritt zu bekommen.
Musik war ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie und Gutachter entschieden, welche Art von Musik gespielt werden durfte und welche nicht. Diskotheken wurden Hotspots – auch für den SchwarzmarktIn den 1980ern führten dann die Olympischen Sommerspiele in Moskau dazu, dass die Discos in der Hauptstadt noch beliebter wurden.
Als die Spiele vorüber waren und Tausende ausländische Touristen Moskau verlassen hatten, stiegen die modernen Diskotheken zu populären Orten auf, an denen sich die sowjetische Jugend traf. Eine der berühmtesten und populärsten neuen Einrichtungen war die Disco im Moskauer Velodrom im Stadtteil Krylazkoje, einer Sporthalle mit einer Radrennbahn.
Diskotheken wurden aber auch in Studentenheimen, Kulturklubs für Arbeiter, Cafés und Restaurants eröffnet. Dort gab es kaum Zensur, weswegen die Menschen alle Musikrichtungen spielen und hören konnten. So zählte der Song „Abracadabra“ der Steve Miller Band neben Songs von Boney M, Dschingis Khan und Modern Talking zu den beliebtesten Hits unter Discogängern. Ebenso populär waren auch sowjetische DJs wie Sergej Minajew, die teilweise versuchten, bekannte Discolieder aus dem Westen zu covern und daraus russische Versionen mit Bühnenshows zu machen.
Doch Diskotheken waren zeitgleich auch Orte, an denen der Schwarzmarkt blühte: Es wurden Eintrittskarten gefälscht, Barkeeper schenkten schlecht schmeckende Cocktails mit billigem Alkohol aus und Dealer verkauften Kleidung wie Jeans aus dem Westen unter den Theken. Dadurch wurden Discos unter anderem auch zu Hotspots für alternative Kultur und Schwarzhandel.
Tradition macht Discoabende erfolgreich
Weil es in sowjetischen Tanzlokalen oft an guten Tongeräten und anderer Technik mangelte, benutzten DJs Magnettonbandgeräte als Hauptinstrumente. So waren fast immer zwei Geräte neben den DJs aufgestellt: Eines spielte ein bereits für den Abend vorbereitetes Musikset ab, ein anderes beinhaltete Songs, die sich die Gäste wünschen konnten.
Der Brauch, sich beim DJ ein Lied zu wünschen, ist ein Element, das von den traditionellen Tanzabenden in der Sowjetunion, also noch vor dem
Discowahn, übernommen wurde. Ein gelungener Discoabend musste zudem immer auch einen sogenannten weißen Tanz enthalten – zumeist eine Ballade, bei der Männer von Frauen zu einem Tanz aufgefordert werden.
Da die sowjetische Generation der Discogänger aus den 1980ern, heute etwa 50 Jahre alt, immer noch aktiv ist und von Zeit zur Zeit Ausschau nach den guten, alten Zeiten hält, gibt es in vielen russischen Städten bis heute Tanzabende, die unter dem Motto 80er-Disco-Party veranstaltet werden. In Moskau findet deshalb jährlich ein Event im Sportkomplex Olimpijskij statt, bei dem Tausende Menschen gemeinsam zu ihren Lieblingssongs aus den 80er-Jahren singen und tanzen.
Wassilij Schumow ist Musiker, Producer, Fotograf und Videokünstler.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!