Eine Szene in dem Streifen „Die weiße Sonne der Wüste“ (1970) zeigt Bauchtänzerinnen in einem Harem, die ihre Röcke heben und den Busen entblößen, um ihre Gesichter vor den Soldaten der Roten Armee zu verbergen. Foto: kinopoisk.ru
Nach der Oktoberrevolution von 1917 rief die Jugend die „sexuelle Revolution“ aus. „Glas-Wasser-Theorie“ war das Schlagwort. Der Umgang mit Sex sollte genauso selbstverständlich sein wie das Trinken eines Glases mit Wasser. Jedoch waren die – nicht mehr ganz so jungen – Parteiführer von dieser progressiven Idee nicht besonders begeistert. 1924 wurde deshalb ein Buch mit dem Titel „Die zwölf sexuellen Gebote des revolutionären Proletariats“ veröffentlicht, in dem Polygamie und sexuelles Übermaß verurteilt wurden. Seitdem behielt die sowjetische Zensur ein Auge auf Sex in allen Formen der Kunst, besonders bei Kinofilmen. Diese Haltung wurde durch die Behauptung „Es gibt keinen Sex in der Sowjetunion“ auf den Punkt gebracht. Es ist jedoch umstritten, ob es tatsächlich Jekaterina Furzewa, die damalige Ministerin für kulturelle Angelegenheiten, gewesen ist, die das gesagt hat.
Eindeutig zweideutig
Die erste sowjetische Nacktszene schaffte es nie auf die Leinwand. Dabei handelte es sich um eine Szene aus dem Film „Erde“, ein Melodram von Alexander Dowschenko aus dem Jahr 1930. Die Verlobte eines sozialistischen Bauern, der vom Sohn eines wohlhabenden Kulaken ermordet wurde, trauert darin vollkommen nackt und leidenschaftlich um ihren toten Gatten, volle sieben Minuten lang. Zu lange für die Zensoren.
Eine Szene aus dem Film "Erde" (1930). Quelle: kinopoisk.ru
Vom Ende der dreißiger Jahre bis weit in die sechziger Jahre hinein waren die sowjetischen Filme viel freizügiger als die unter dem strengen US-amerikanischen Moralkodex gedrehten Produktionen. Dieser hatte jegliche Nacktszenen, ob tatsächliche oder nur angedeutete, absolut untersagt. Die Definition „erotisch“ bezog sich für die sowjetischen Zensoren weniger auf Nacktheit, als auf alles, was direkt mit sexuellen Handlungen verbunden war. Dazu gehörten lange Küsse, Bettszenen und erotische Tänze. Über nackte Schwimmer regte sich niemand mehr auf.
„Der Amphibienmensch“, 1962. Quelle: kinopoisk.ru
Nacktszenen fanden meist dort Verwendung, wo sie am wenigsten zu erwarten waren. In Liebesfilmen war das Unanständigste, was man zu sehen bekommen konnte, eine ertrinkende Schönheit in einem nassen Hemd („Der Amphibienmensch“, 1962) oder ein Paar, das sich auf einer verlassenen Insel durch ein Feuer rettet, zwar nackt, aber züchtig in einen
Teppich gehüllt („Der letzte Schuss“, im Original „Der Einundvierzigste“, 1956). In ernsten Dramen hingegen wurden entblößte Brüste und Hinterteile ganz offensichtlich von der Kamera eingefangen. Eines der frühsten Beispiele ist das ideologisch gefärbte Drama „Tanja“ (ursprünglicher Titel „Der helle Weg“, 1940), in dem Frauen sich hinter einer halbdurchsichtigen Glastür unter einer Werksdusche waschen.
Drama oder Komödie – Hauptsache nackt
Aus irgendeinem Grund waren Kriegsfilme an „unzüchtigen“ Szenen besonders reich. Eine Frau beim Umziehen, deren enthüllte Brust deutlich im Spiegel zu sehen ist („Die Uhr blieb um Mitternacht stehen“, 1958), ein Mädchen, das sich im Beisein sowjetischer Soldaten wäscht („Vier Winde des Himmels“, 1962) und natürlich die epische Sauna-Szene des Kriegsdramas „Im Morgengrauen ist es noch still“, 1972), in der fast ein Dutzend attraktive nackte Schauspielerinnen zu betrachten sind, können als berühmte Beispiele angeführt werden.
Die Sauna-Szene des Kriegsdramas „Im Morgengrauen ist es noch still“, 1972. Quelle: kinopoisk.ru
Der letzte Film war ein Publikumsmagnet, wohl weniger wegen der dramatischen Handlung, als wegen der schönen Aussichten, die sich den Zuschauern boten und die Zeitzeugen bis heute in guter Erinnerungen haben.
Manchmal fanden die erotischen Szenen unter dem Deckmantel der Komödie ihren Weg durch die Zensur. Die Nudisten-Szene in dem sonst sehr prüden Film „Die Schwestern“ (1957, nach dem Roman von Alexej Tolstoj) wurde nach offizieller Lesart hinzugefügt, um Russlands wohlhabende Schicht der Vorkriegsepoche zu verspotten. Eine Slapstick-Szene in dem Streifen „Die weiße Sonne der Wüste“ (1970) zeigt Bauchtänzerinnen in einem Harem, die ihre Röcke heben und den Busen entblößen, um ihre Gesichter vor den Soldaten der Roten Armee zu verbergen.
„Der Diamantenarm“ (1969). Quelle: kinopoisk.ru
Nachhaltigen Eindruck hinterließ auch der Striptease von Swetlana Swetlitschnaja in der Erfolgskomödie „Der Diamantenarm“ (1969), ein Schock für die Bevölkerung, trotz der eher züchtigen und sachlichen Darstellung.
Preisgekrönte Nacktheit
Außerhalb des sowjetischen Mainstream-Kinobetriebs drehten Arthouse-Regisseure, wie etwa Andrej Tarkowski und Sergej Parajanow, ihre Filme. Sie wurden als Unruhestifter abgestempelt und ihre Filme, die oft Nacktszenen und sexuelle Anspielungen enthielten, wie zum Beispiel Parajanows „Feuerpferde“ von1964, wurden stark gekürzt oder erschienen in der Sowjetunion gar nicht erst auf der Leinwand.
Die berühmteste Nacktszene des sowjetischen Arthousefilms ist ein slawisches heidnisches Ritual in „Andrej Rubljow“ (1966). Quelle: kinopoisk.ru
Gleichzeitig vertraten die Arbeiten Parajanows und Tarkowskis jedoch die Sowjetunion erfolgreich bei internationalen Filmfestivals. Die berühmteste Nacktszene des sowjetischen Arthousefilms ist ein slawisches heidnisches Ritual in „Andrej Rubljow“ (1966), bei dem Dutzende nackte Männer und Frauen durch den Wald rennen und dabei von dem Mönch und Ikonenmaler Rubljow beobachtet werden.
Ab den siebziger Jahren lockerte sich der Griff der Zensur. Die Filmemacher wagten mehr Erotik. Ein Meilenstein war der mit einem Großbudget produzierte Katastrophenfilm „Die Besatzung“ („Ekipazh“, Englisch: „Air Crew“), in dem ein Liebespaar nackt im Bett gezeigt wurde. Diese Szene verhalf dem Film zu einer unerhörten Berühmtheit und löste eine Art Schneeballeffekt aus.
Im Film „Kleine Vera“ von 1988 wurde dem sowjetischen Publikum schließlich eine wirkliche Sexszene präsentiert. Quelle: kinopoisk.ru
In den Achtzigerjahren konnten die sowjetischen Kinobesucher dann eine ganze Reihe erotischer Szenen auf der Leinwand genießen. Allerdings wurde die Grenze zur Pornografie nie überschritten - bis zum Film „Kleine Vera“ von 1988. In diesem eher deprimierenden Sozialdrama wurde dem sowjetischen Publikum schließlich eine wirkliche Sexszene präsentiert.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die öffentliche Nachfrage nach Nacktszenen und Sex auf dem Bildschirm und der Leinwand
praktisch schon befriedigt. Meist illegal eingeführte ausländische Videokassetten hatten Ende der Achtzigerjahre längst Einzug in die sowjetischen Wohnzimmer gehalten. Die zeitgenössischen Filmemacher hatten neue Freiheiten beim Dreh erotischer Szenen.Heutzutage kommen Filme für „Erwachsene“ im russischen Kino und Fernsehen nur mit einer entsprechenden Altersbeschränkung heraus.
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