Die Memoirenschreiberinnen wurden größtenteils aus politischen Gründen gemäß dem berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches inhaftiert. Foto: Getty Images
Berichte über das Leben von Frauen in den sowjetischen Arbeitslagern drehen sich um Vergewaltigungen und Prostitution, tote Babys und brutale Verhöre. Doch neben all den Tragödien gibt es auch überraschende, beinahe inspirierende Erzählungen über Liebe und Freundschaft, Widerstandsfähigkeit und Einfallsreichtum. Diese Extreme werden mit lebendigen und unvergesslichen Details in Büchern von Frauen beschrieben, welche die sowjetischen Arbeitslager überlebt haben.
„Die blutigste Epoche unserer Geschichte“
Ursprünglich war das Wort „Gulag“ ein Akronym und stand für „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager“. Heute steht dieser Begriff für ein umfassendes System von Inhaftierung und Zwangsarbeit, das Stalin 1929 erweiterte und das bis zu seinem Tod 1953 immer weiter wuchs. Anne Applebaum geht in ihrem Buch „Der Gulag“ davon aus, dass in diesem Zeitraum „rund achtzehn Millionen Menschen dieses gewaltige System durchlaufen haben“. Die Bedingungen in den Lagern waren schrecklich, die Sterberate hoch. „Doch Statistiken können schließlich nie ganz beschreiben, was geschah“, schreibt Applebaum. Wir können nur beginnen, die Leiden hinter den Zahlen zu verstehen, wenn wir Augenzeugenberichte von Überlebenden lesen.
Die Russin Tamara Petkewitsch hat sieben Jahre in Arbeitslagern verbracht. In ihrer Autobiografie „Die Liebe gab mir Hoffnung“ erwähnt sie einen ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, der im Gefängnis Dienst schieben musste. „Die blutigste Seite unserer Geschichte spiegelte sich nachdrücklich im kranken Bewusstsein dieses Beamten wider“, schreibt Petkewitsch. Sie erzählt, dass der Beamte umherging und verwirrt Schieß-, Exil- oder Arrestbefehle für „alle Frauen Moskaus“ aussprach. Später lief er mit einer Axt Amok und hieb Insassen Gliedmaßen ab, sodass „überall Blut floss“. Eine Ärztin stoppte ihn schließlich, indem sie ihn im Befehlston fragte: „Wo ist das Urteil? Wann hat das Gericht getagt?“ Diese verrückte Episode steht als mikrokosmische Metapher für eine apokalyptische, sinnlose Zeit.
Jewgenia Ginsburg, Professorin in Kasan, musste achtzehn Jahre im sowjetischen Gefangenenlager verbringen. Ihre Memoiren „Marschroute eines Lebens“ beschreiben die alltäglichen Einzelheiten, die den Schrecken untermalen, zum Beispiel, wie sie ihren BH im Schmutzwassereimer auswusch oder ihn mit Fischgrätennadeln flickte, die sie „aus dem abendlichen Eintopf gefischt“ hatte. Als handele es sich um nichts Bemerkenswertes, schreibt sie über den Augenblick, in dem eine friedliche, unbekümmerte Frau namens Nadja „eines dunkelroten Abends in Kolyma“ auf dem gefrorenen Boden zusammenbrach. Ein Wächter schubste ihren Körper mit seinem Gewehr und schrie sie an, sie solle aufstehen, bis eine der anderen Gefangenen darauf hinwies, dass sie tot sei.
Sexuelle Übergriffe
Obwohl das eintönige Lagerleben niederdrückend war, fanden einige Frauen Mittel und Wege, bei Lagerbeamten ihren Körper gegen besseres Essen oder angenehmere Lebensumstände einzutauschen. Doch nicht jeder erlag dieser Versuchung, sodass es auch Verachtung und Feindschaft unter den Gefangenen gab.
„Er streckte seine blauen, vom Frost geschädigten Hände mit den gekrümmten Fingern nach mir aus“, schreibt Ginsburg. Als ihr für Sex Geld angeboten wird, kommentiert sie das ironisch mit der Bemerkung, dass ihr Prostitution zuvor immer nur als soziales Problem oder schauspielerische Erfindung begegnet sei.
Mehrere Memoiren beschreiben die Verwendung kodierter Klopfzeichen, um zwischen den Zellen miteinander zu kommunizieren. Foto: Getty Images
Die Memoirenschreiberinnen wurden größtenteils aus politischen Gründen gemäß dem berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches inhaftiert. Petkewitsch bezeichnete man als „Tochter eines Volksfeindes“ und inhaftierte sie 1943, als sie Anfang zwanzig war. Die schöne, junge Frau wurde häufig zum Ziel sexueller Übergriffe. Als sie den Leiter des Kultur- und Bildungsministeriums abwehrte, brummte er: „Du wirst vermodern. Zu meinen Füßen wirst du um Hilfe winseln.“
Petkewitsch beschreibt später auch, wie Mütter von ihren Kindern getrennt wurden, und erinnert sich an eine Gefangene, die sich komplett auszog, „fluchte und schwor, sie sei wieder schwanger, damit sie sie bleiben ließen“. Die Aufseher brachten sie in den Strafblock, von dem aus „ihre Schreie noch lange Zeit zu uns herüber drangen“.
Das kleine Glück der Gefangenen
Viele der Geschichten über das Leben im Gulag sind von Grausamkeit geprägt. Orlando Figes dokumentiert in seiner bewegenden Briefgeschichte „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors“ die Beziehung zwischen Lew und Sweta, nachdem Lew inhaftiert worden war. Sie riskierte alles, um ihn zu besuchen und ihm lebensrettende Dinge zu schicken. Die 1 500 Briefe, die sie einander schrieben, sind eine Hommage an den menschlichen Geist.
Die berühmteste Gulag-Freundschaft war jene zwischen Ariadna Efron, Tochter der Dichterin Marina Zwetajewa, und Ada Federolf, deren Memoiren gemeinsam in einem Band mit dem Titel „Unforced Labors: The Memoirs of Ada Federolf and Selected Prose of Ariadna Efron“ veröffentlicht worden sind. Efron schrieb in einem Brief, dass ihre Beziehung zu Federolf „der Prüfung von zehn Jahren Leben unter Bedienungen, die du dir – Gott sei Dank – kaum vorstellen kannst, getrotzt hat“. Federolf beschreibt ihre Freude, „Alja“ nach einer Trennung wieder zu sehen: „Das ist es, das Glück der Gefangenen, das Glück, einfach einen Menschen zu treffen.“
Mehrere Memoiren beschreiben die Verwendung kodierter Klopfzeichen, um zwischen den Zellen miteinander zu kommunizieren. Als Ginsburg schließlich das von ihrem Nachbarn geduldig wiederholte „G-r-ü-ß-e“ dekodiert, kann sie seine Freude förmlich durch die Steinplatten der Mauer hindurch spüren. Für Ginsburg gibt es „keine leidenschaftlicheren Freundschaften als jene, die im Gefängnis geschlossen wurden“. Literatur wurde auch zu einem Rettungsanker. Ginsburg rezitierte russische Gedichte, ersann und merkte sich ihre eigenen Gedichte und fragte sich: „Worauf soll man vertrauen, wenn alles Lüge ist?“
Petkewitsch wurde Schauspielerin, die zuerst mit einer Theatergruppe, die von Lager zu Lager zog, und schließlich auch in der Außenwelt auftrat. Häufig sprach sie von der Kraft der Kunst. Die Geschichte, die sie erzählt, wird „mächtiger als mein eigenes Leid“. Bei einem Konzert im Gefangenenlager „schluchzte der ganze Saal. Wir hatten vergessen, wie Musik klingt.“
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