Immer mehr Russen nutzen das Fahrrad als Transportmittel.
Wjacheslaw Prokofiew/TASSDie Literaturredakteurin Oxana Agapowa fährt von Mai bis September mit dem Roller zur Arbeit und auswärtigen Terminen. „Sobald die Stadt vom Schnee befreit ist, bewege ich mich drei Mal so schnell durch die Stadt. Ich kann dann endlich wieder meinen Roller benutzen. Von zuhause bis zur Metro bin ich zu Fuß rund 15 Minuten unterwegs, mit dem Roller sind es nur noch fünf“, erklärt die Moskauerin. „Für mich ist der Roller das denkbar beste Verkehrsmittel. Autofahren ist unpraktisch angesichts der notorischen Staus und der Parkgebühren in unserer Stadt. Für das Fahrrad ist mein Weg zur Arbeit zu lang, und in die Metro darf man es nicht mitnehmen.“
Oxana träumt seit ihrer Kindheit von einem eigenen transportablen Verkehrsmittel. „Das einzige Problem sind die Gehwegplatten, die beschädigen die Lager. Außerdem vibriert der Roller unangenehm beim Darüberfahren“, sagt sie.
Anna Konstantinowa, Ingenieurin für Ballistik, legt ihre Strecken durch Moskau sehr gerne mit dem Fahrrad zurück. „Ich bin schon vor über drei Jahren aufs Fahrrad umgestiegen. Ich habe ein Citybike mit ausreichend Gängen und einem Korb vor der Lenkradstange für meine Sachen“, so die junge Frau. „Früher war mein Weg zur Arbeit 5,5 Kilometer lang, ich habe 25 Minuten dafür gebraucht. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln hat die Fahrt für die gleiche Strecke 40 Minuten gedauert. Daher fuhr ich immer mit dem Fahrrad, sogar im Winter.“
Anna hat mittlerweile ihren Arbeitsplatz gewechselt, sie muss nun 21 Kilometer von ihrer Wohnung zur Arbeit zurücklegen. Dafür braucht sie eine Stunde und 40 Minuten. „Das ist eine weite Strecke, aber ich versuche, sie zumindest einmal pro Woche mit dem Fahrrad zurückzulegen“, sagt sie.
Auf dem Fahrrad achtet Anna sehr genau auf die Verkehrsregeln, das heißt, sie benutzt den rechten Fahrstreifen, und das nicht weiter als einen Meter vom Gehweg entfernt. Schwierigkeiten bereiteten den Fahrradfahrern in der Stadt die falsch parkenden Autos, sagt sie. Auch gebe es nicht genug Fahrradparkplätze, auf denen man sein Rad ohne Bedenken stehen lassen könne.
In Moskau ist die Nachfrage nach Fahrrädern innerhalb der letzten fünf Jahre stark gestiegen. So sei die Zahl der Fahrradfahrer in Moskau von 1 500 im Jahr 2014 auf 2 000 in diesem Jahr geklettert, erklärte die Regierung der russischen Hauptstadt. Auch der Fahrradverleih etablierte sich in der russischen Hauptstadt. Es gibt derzeit 150 Verleihstationen. Bis Ende des Jahres soll sich ihre Zahl verdoppeln. Außer diesen Verleihstationen gibt es in der Stadt zusätzlich 755 Fahrradparkplätze. Sie befinden sich mehrheitlich in den Randbezirken.
Wie Konstantin Trofimenko, Dozent am Institut für Verkehrswirtschaft und Verkehrspolitik der Higher School of Economics bemerkt, ist die Nachfrage nach Fahrrädern und Rollern vor allem in Moskau, aber auch in Sankt Petersburg und in einigen sibirischen Regionen – insbesondere in Transbaikalien und Chakassien sowie Burjatien – signifikant gestiegen. „Vor allem für junge Leute sind diese Verkehrsmittel attraktiv, da sie einen umweltbewussten und gesunden Lebensstil führen wollen“, so der Experte.
Der Aufbau russischer Städte folgt allerdings einem „sowjetischen Schema“. Im Zentrum der Stadt sind Arbeitsplätze und Angebote für Freizeit und Konsum konzentriert, an den Rändern befinden sich die Wohnbezirke. „Der Weg von einem Wohnbezirk ins Zentrum ist weit, in der Regel zwischen zehn und 20 Kilometern. Die Bewohner solcher Städte nutzen daher nur selten das Fahrrad als Hauptverkehrsmittel“, betont Trofimenko.
Experten erklären die Popularität der Fahrräder mit dem positiven Image des europäischen Lebensstils. „Wer in europäischen Städten mit komfortabler Infrastruktur gewesen ist, möchte diese Lebensweise nach Moskau mitbringen. Das Fahrrad wurde so zu einem Symbol des europäischen Lebensstils und eine Möglichkeit, ihn selbst zu leben“, sagt die Stadtforscherin Rada Konstantinowa von der Agentur Zentr, die sich mit der strategischen Entwicklung des öffentlichen Raums befasst. Der Trend, so die Expertin, werde von den städtischen Behörden gefördert, die Autofahrer mit großen Kampagnen zur vermehrten Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und zum Fahrradfahren bewegen wollten.
Konstantinowa ist nicht besonders überzeugt von dem Verdrängungspotenzial des Fahrradtrends. Wenn das Fahrrad in 30 Jahren fünf Prozent des traditionellen Personenverkehrs in Moskau einnähme, dann sei das bereits ein sehr gutes Ergebnis. „Bislang schrecken die meisten Städter davor zurück, im Stadtverkehr Fahrrad zu fahren. Autofahrer nehmen kaum Rücksicht und stellen für Radfahrer eine große Gefahr dar. Viele haben auch gesundheitliche Bedenken wegen der Abgase. In Russland sind die Winter außerdem kalt und schneereich.“ Die Menschen seien in dieser Jahreszeit froh, wenn sie auf kürzestem Weg zur Metro oder zu ihrem Auto gelangten und sich nicht ihre Nasen abfrieren müssten. „Die Frage nach alternativen Verkehrsmitteln stellt sich daher nur in der warmen Jahreszeit“, sagt die Expertin. Das Auto sei zudem noch immer ein wichtiges Symbol für Status und Erfolg, so Konstantinowa.
Wer einen Roller benutzt, gelte weiterhin als Fußgänger und dürfe auf den Gehwegen fahren. So wähle man eine sicherere Fortbewegungsart als das Fahrrad, erklärt Wladimir Sokolow, Vorsitzender des Fußgängerbundes, einer überregionalen Organisation zum Schutz der Rechte von Fußgängern. „Fahrradfahrer sind verpflichtet, auf der Straße zu fahren oder, insofern vorhanden, den Radweg zu nutzen“, so der Experte. „Aber auf russischen Straßen ist das oft nicht ungefährlich. Die Autos fahren in der Regel 80 Kilometer pro Stunde, Fahrradwege gibt es kaum.“ Um das Fahrrad in Russland wirklich als Fortbewegungsmittel zu etablieren, müsste in den Städten eine Geschwindigkeitsbegrenzung von maximal 40 bis 50 Kilometer pro Stunde eingeführt werden.
2011 wurde für Moskau ein Programm zur Entwicklung von Fahrradwegen ausgearbeitet. Über einen Zeitraum von fünf Jahren sollen rund 8,4 Millionen Euro in den Ausbau der Infrastruktur investiert werden. 200 Kilometer Fahrradwege wurden seit dem Start bereits gebaut. Die meisten von ihnen verlaufen allerdings in öffentlichen Parks. Außerdem entstand dieses Jahr im Moskauer Stadtzentrum der erste Seitenstreifen für Fahrradfahrer. Er erstreckt sich über neun Kilometer. Autofahrer müssen bei Überfahren der Linie mit einem Bußgeld von 35 Euro rechnen.
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