Nicht nur Fremde, auch Einheimische können über die Wappen vieler russischer Regionen einfach nur staunen. In Sibirien etwa werden Höhlenmalereien als Stadtsymbol verwendet. In der Wolgaregion blickt dem Betrachter schon einmal das Auge der Vorsehung über Lauchbeeten entgegen. Mancherorts prägen Traktoren und Fabriken aus der Sowjetzeit das Wappenbild.
Die Anfänge der russischen Wappenkunst gehen auf das 17. Jahrhundert und das Wirken Peters des Großen zurück. Die anfänglich blinde Nachahmung europäischer Muster fand bald ein Ende und die russische Wappenkunde, Heraldik genannt, nahm eigentümliche Züge an. Für westliche Hoheitszeichen typische mystische Wesen sind auf Russlands Wappen eher eine Seltenheit. Nicht so Waldtiere aller Art – Füchse, Zobel und natürlich Bären. Gerade die Bären sind in der russischen Wappenkunst vielseitige Talente: Hier bauen sie Häuser, dort spalten sie Atome.
Foto: Pressebild
Doch auch Fabelwesen kommt ein gebührender Platz in Russlands Heraldik zu. Auf dem Irkutsker Wappen etwa ist kein gewöhnlicher Greif abgebildet, sondern ein „Babr“ – ein Tiger mit einem Zobel in den Zähnen. Nicht minder kurios ist seine Entstehungsgeschichte.
„Babr“ ist altsibirisch für „Tiger“. Einst von Zarin Katharina der Großen im 18. Jahrhundert offiziell als Wappen abgesegnet, kam allein seine Beschreibung hundert Jahre später zu Dokumentationszwecken in das Sankt Petersburger Heroldsamt. Die zuständigen Beamten hielten „Babr“ für einen „Bobr“ – russisch für „Biber“ – und korrigierten den vermeintlichen Rechtschreibfehler. Der neuen Anweisung und der alten Vorlage hörig entwarfen die Wappenkünstler das entsprechende Stadtemblem. So entstand der mystische Tigerbiber – ein schwarzer Räuber mit Flossen an den Füßen und einem buschigen Schwanz. In der Heimatstadt hieß das Wundergeschöpf weiterhin Babr – aus Gewohnheit.
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Kein geringeres Phänomen als der Tigerbiber ist ein Kamel im Ural. In Tscheljabinsk lebt ein Kamel-Paar, aber nur im Zoo. Auf dem Stadtwappen hat es sich dennoch eingenistet. Dort tauchte es mit umgeschnallten Ballen im 18. Jahrhundert auf – als Symbol dessen, dass „viele der Tiere mit Kaufmannsgütern in die Stadt kommen“, wie es in den Stadtannalen heißt.
Im 18. Jahrhundert war Tscheljabinsk ein wichtiger Handelsknotenpunkt. Inzwischen ist die Stadt zwar ein Industrierevier, auf das Wappen wollte aber niemand verzichten. Vor 16 Jahren wurde es leicht überarbeitet und an die geltenden Vorschriften angepasst.
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Manchmal kann die Wappensymbolik so weit in die Geschichte zurückreichen, dass sie den Wandel der Stadt nicht mehr angemessen wiedergibt. So geschehen mit dem Stadtwappen von Weliki Ustjug. Die Stadt 750 Kilometer nordöstlich von Moskau gilt als die Heimat des russischen Väterchen Frost. Unweigerlich wirft der auf dem Wappen abgebildete Mann die Frage auf, ob es sich dabei um den Weihnachtsmann handelt, der vielleicht gerade Urlaub macht. Oder soll das Bild die globale Erderwärmung thematisieren? Nein, es ist alles viel einfacher: Die Stadt ist am Zusammenfluss der Ströme Suchona und Jug gelegen. Auf dem Wappen fließen diese aus den Krügen. Der halbnackte Mann ist daher logischerweise … Neptun, der antike Wassergott.
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Eigentlich soll auf den Wappen ja keine Technik abgebildet werden. Technische Errungenschaften veralten schnell – nach nur einer Generation weiß daher niemand mehr so genau, was da auf dem Wappen zu sehen ist. So genau muss man es mit dem Tabu aber dann doch nicht nehmen, dachte sich zumindest die zu Sowjetzeiten in Sibirien gegründete Stadt Schelesnogorsk.
Die Stadt wird inoffiziell „Atomstadt“ genannt – bis heute wird dort waffenfähiges Plutonium hergestellt. Was liegt da also näher als ein Bär, der ein Atom spaltet? Mag das für einen Laien befremdlich wirken, so ist das vom heraldischen Standpunkt jedoch völlig in Ordnung: „Man kann auf einem Wappen zum tausendsten Mal etwas Abgedroschenes abbilden – einen Löwen, einen Adler oder eine Lilie. Die Wappenkunst begrüßt aber das Individuelle, Außergewöhnliche“, erklärt Dmitri Iwanow, Mitglied der russischen Gilde der Wappenkundler.
Das Wappen von Schelesnogorsk habe nichts Ungewöhnliches an sich, meint der Experte, es bestehe aus einfachen und klaren Elementen: ein Tier, Ringe, Kugeln. „Mit den traditionellen heraldischen Tricks und Figuren kann jede Idee oder Technologie dargestellt werden – von Fotografie über Tonaufnahme bis Internet“, erklärt Iwanow.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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