Google-Fragen: Warum trinken Russen so viel?

Selbst Russen bestreiten das Gerücht nicht: Im Land wird viel getrunken. Die Gründe dafür sind vielschichtig – und auch der Staat spielte eine entscheidende Rolle. Seit einigen Jahren sinkt der Konsum, ist aber noch immer sehr hoch.

Bild: Ekaterina LobanovaBild: Ekaterina Lobanova

Ein im Moskau lebender Englischlehrer aus Kanada stellte vor wenigen Jahren eine Sammlung witziger Fakten über Russland ins Netz. Viele Punkte seiner Liste galten unter Russen als umstritten: Als ob Russen nie „danke“ und „bitte“ sagen würden, hieß es zum Beispiel als Reaktion. In einem Punkt aber waren sich die meisten einig: „Russians drink a lot of vodka. It's not a myth“, schrieb der Kanadier. Grob übersetzt heißt das so viel wie „Russen trinken viel Wodka, das ist kein Mythos“.

Überraschend ist diese Einigkeit nicht. Russlands Vorliebe für hochprozentigen Schnaps war bereits in ganz Europa bekannt, als es das Russland, wie wir es heute kennen, noch gar nicht gab. So schlug der russische Fürst Wladimir auf seiner Suche nach einer Religion für sich und das Volk das Angebot der Islamprediger blindlings aus, wie uns die Nestorchronik aus dem 12. Jahrhundert lehrt. Denn Allah zu dienen, hieße ja dem Alkohol zu entsagen. Dabei sei das Trinken doch eine Freude, ohne die man in der Rus gar nicht leben könne, soll der weise russische Fürst den Predigern gesagt haben.

Damals tranken die Russen aber noch keinen Wodka, sondern Wein und den hochprozentigen Mjod, das Pendant zum altgermanischen Met. Nach anerkanntem Forschungsstand kam Wodka in Russland erst im 16. Jahrhundert auf. Dafür wurde der Schnaps aber – in einer Reihe mit Bären und Matrjoschkas – schnell zu einem wahrlich russischen Symbol. Der Sowjetschriftsteller Wenedikt Jerofejew empfiehlt in seiner Novelle „Eine Reise von Moskau nach Petuschki“ ausdrücklich, die Grenze zwischen Europa und Russland anhand des Alkoholkonsums zu definieren: „Auf der einen Seite der Grenze spricht man Russisch und trinkt mehr, auf der anderen Seite trinkt man weniger und spricht nicht Russisch“, war für Jerofejews Protagonisten klar.

Erbgut und Geschichte fördern den Konsum

Warum aber trinken die Russen so viel? Eine der Ursachen sei die Genetik, sagt die Biologin Swetlana Borinskaja: Der Organismus der Russen – wie auch anderer Europäer – verarbeite Alkohol langsamer zu giftigem Acetaldehyd. Diese Substanz zeichnet für den Kater und andere unangenehmen Folgen des Alkoholkonsums verantwortlich. Bei den Japanern und Chinesen verlaufe dieser Prozess deutlich schneller. Deshalb würden sie eben weniger vertragen. „Die Gene zwingen die Russen natürlich nicht dazu, so viel zu trinken. Aber sie machen es möglich“, sagt die Spezialistin.

Andere Ursachen findet man in der Geschichte des Landes. Insbesondere die Regulierung des Alkoholkonsums durch den russischen Staat fällt dabei ins Auge. Russische Zaren führten im Übergang vom 16. ins 17. Jahrhundert das System staatlicher Schenken ein, wie der Historiker Alexander Pidschakow bestätigt. Deren Besitzer waren verpflichtet, einen bestimmten Geldbetrag an den Fiskus abzuführen – und zwar unabhängig davon, wieviel Wodka und Wein tatsächlich über die Theke gegangen war. Dies habe die Wirte angespornt, so viel wie nur möglich zu verkaufen. Der Staat erhielt große Einnahmen aus dem Alkoholerlös und die Russen gewöhnten sich allmählich ans Trinken. „Die Macht hat die Menschen systematisch an die Kneipe gebunden“, schreibt Pidschakow.

Allmählich wurden sich schließlich aber auch die Mächtigen der Gefahr einer „Alkoholisierung“ des Landes bewusst. Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sogenannte „Bewegungen der Nüchternen“. Und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verbot Zar Nikolai II. den Alkohol vollständig. Die Bolschewiken hielten das Verbot nach ihrer Machtergreifung 1917 zunächst bei, auch wenn es nur bis 1923 fortbestand. Danach setzte der Sowjetstaat mehrmals zum Kampf gegen den Alkoholismus an. Die größte Kampagne rief Michail Gorbatschow ins Leben: Von 1985 bis 1990 wurden die Preise auf Spirituosen erhöht, verkauft wurde Hochprozentiges nur fünf Stunden am Tag und der Weinbau wurde buchstäblich zerschlagen.

Russen trinken weniger, aber immer noch viel

Heute trinken die Russen – auch im historischen Vergleich – immer noch viel, in den letzten Jahren aber immer weniger. 2010 nahm ein Russe laut der Weltgesundheitsorganisation WHO 15,1 Liter reinen Alkohol pro Jahr zu sich – der viertgrößte Wert der Welt nach Belarus, Moldawien und Litauen. Im Jahr 2016 betrug der Pro-Kopf-Konsum mehr als zehn Liter, wie die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor vermeldet. Genaue Zahlen nennt die Behörde nicht, aber weniger als 15 Liter sind es allemal.

„Den Zahlen nach zu urteilen, trinken die Russen tatsächlich weniger“, schrieb der Weinkenner Anton Obrestschikow in seinem Beitrag für das Lifestyle-Magazin „Afisha“. Die russischen Verbraucherschützer stimmen dem zu: „Der Alkoholkonsum ging im Vergleich zu 2009 zurück“, heißt es bei Rospotrebnadsor. Doch das ist noch immer ungesund viel: Mehr als acht Liter Hochprozentiges pro Kopf pro Jahr stuft die WHO als gesundheitsgefährdend ein. Also muss man dem Trinken wohl erneut den Kampf ansagen.

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